Jetzt rief sie die neuesten Satellitenfotos auf und zog eine Augenbraue hoch. Er hatte sein Lager noch nicht abgebrochen. Normalerweise fuhr er früh am Morgen los, sobald es hell genug zum Navigieren war. Dann nutzte er die Mittagssonne aus, um möglichst effizient nachzuladen.
Heute hatte er sich nicht gerührt, und der Morgen war schon ein Stück fortgeschritten.
Sie betrachtete die Rover und den Schlafraum und suchte nach einer Botschaft. Sie fand sie an der gewohnten Stelle nördlich des Lagers. Als sie den Morsecode las, riss sie die Augen weit auf.
“STAUBSTURM. MACHE MIR EINEN PLAN.”
Hastig tastete sie nach ihrem Handy und rief Venkats Privatnummer an.
23
Logbuch: Sol 476
Ich glaube, ich kriege das hin.
Ich befinde mich am Rand eines Sturms. Die Größe und die Zugrichtung kenne ich nicht, aber er bewegt sich, und das kann ich zu meinem Vorteil nutzen. Ich muss nicht herumwandern, um ihn zu erforschen. Er kommt zu mir.
Der Sturm besteht nur aus Staub in der Luft, der für die Rover nicht gefährlich ist. Für mich ist er ein “Verlust in Prozentpunkten”. Die gestrige Stromerzeugung lag bei 97 Prozent. Im Moment ist es also ein 3-Prozent-Sturm.
Ich muss weiterkommen und Sauerstoff erzeugen. Das sind meine beiden wichtigsten Ziele. Zwanzig Prozent meiner gesamten Energie benutze ich, um Sauerstoff zurückzugewinnen, wenn ich einen Lufttag einlege. Falls ich in einen 81-Prozent-Sektor des Sturms gerate, bekomme ich große Schwierigkeiten. Dann geht mir der Sauerstoff aus, selbst wenn ich die ganze verfügbare Energie darauf verwende, ihn zu erzeugen. Das wäre das tödliche Szenario. Aber in Wirklichkeit ist es schon viel früher tödlich. Ich brauche Energie, um mich zu bewegen, weil ich sonst festsitze, bis der Sturm vorbeizieht oder sich auflöst. Das kann Monate dauern.
Je mehr Energie ich erzeuge, desto mehr bleibt mir für die Bewegung übrig. Bei klarem Himmel verwende ich 80 Prozent der Energie auf mein Vorankommen. Auf diese Weise kann ich 90 Kilometer pro Sol fahren. Im Moment, bei einem Verlust von drei Prozent, sind es 2,7 Kilometer weniger als gewünscht.
Es ist kein Problem, jeden Tag etwas weniger zu fahren als geplant. Ich habe viel Zeit, aber ich darf nicht zu tief in den Sturm geraten, weil ich sonst nicht mehr herauskomme.
Auf jeden Fall muss ich schneller sein als der Sturm. Wenn ich schneller bin, kann ich ihn umfahren, ohne hineinzugeraten. Deshalb muss ich herausfinden, wie schnell er sich bewegt.
Das kann ich erreichen, indem ich die morgige Wattzahl mit der heutigen vergleiche. Dabei muss lediglich die Tageszeit die gleiche sein. Dann weiß ich, wie schnell sich der Sturm bewegt. Oder jedenfalls kann ich die Bewegung in Form von Prozentpunkten in Bezug auf den Energieverlust ausdrücken.
Außerdem muss ich die Gestalt des Sturms kennen.
Staubstürme sind groß. Sie können Tausende Kilometer durchmessen. Wenn ich ihn umfahre, muss ich wissen, welche Richtung die beste ist. Ich will im rechten Winkel zu seiner Zugrichtung ausweichen, und zwar dorthin, wo er schwächer ist.
Hier ist mein Plan:
Im Moment kann ich 86 Kilometer fahren, weil die Batterie gestern nicht voll geladen wurde. Morgen lasse ich eine Solarzelle hier und fahre 40 Kilometer nach Süden. Dort setze ich eine weitere Solarzelle ab und fahre noch einmal 40 Kilometer nach Süden. Auf diese Weise bekomme ich in einem Bereich von 80 Kilometern drei Bezugspunkte.
Am folgenden Tag sammle ich die Solarzellen wieder ein und vergleiche die Daten. Indem ich die Wattzahlen an drei Orten zur gleichen Tageszeit vergleiche, erfahre ich, welchen Umriss der Sturm hat. Falls er im Süden stärker ist, weiche ich nach Norden aus. Ist er im Norden dichter, dann fahre ich nach Süden.
Ich hoffe, ich kann nach Süden fahren, weil Schiaparelli im Südosten liegt. Wenn ich nach Norden fahren muss, dauert meine Reise erheblich länger.
Mein Plan hat nur einen kleinen Haken: Ich habe keine Möglichkeit, die Wattzahl einer hinterlassenen Solarzelle aufzuzeichnen. Mit dem Computer des Rovers kann ich mühelos die Leistung überwachen und aufzeichnen, aber ich brauche etwas, das ich abwerfen und zurücklassen kann. Ich kann nicht im Vorbeifahren die Werte ablesen. Ich brauche Werte zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten.
Deshalb spiele ich heute mal wieder den verrückten Wissenschaftler. Ich brauche etwas, das die Wattzahlen festhält. Etwas, das ich bei einer einzigen Solarzelle zurücklassen kann.
Da ich hier sowieso festsitze, lasse ich die Solarzellen draußen, damit sie wenigstens die Batterien voll aufladen.
Logbuch: Sol 477
Den gestrigen und den heutigen Tag habe ich darauf verwendet, und ich glaube, ich bin jetzt bereit, den Sturm zu messen.
Ich brauchte eine Möglichkeit, bei jeder Solarzelle die Tageszeit und die Wattzahlen aufzuzeichnen. Eine Zelle hatte ich bei mir, die anderen beiden wollte ich jedoch absetzen und mich weit von ihnen entfernen.
Die Lösung war der zusätzliche EVA-Anzug, den ich mitgenommen habe.
EVA-Anzüge haben Kameras und zeichnen alles auf, was sie sehen. Eine ist im rechten Arm (oder im linken, falls der Astronaut Linkshänder ist), die andere sitzt über dem Visier. Links unten wird genau wie bei den wackligen Videofilmen, die unsere Väter gedreht haben, ein Zeitstempel in das Bild eingefügt.
In meiner Elektronikausrüstung gibt es mehrere Strommesser. Also dachte ich mir, ich könnte mir daraus ein Aufzeichnungssystem bauen.
Das habe ich dann auch getan. Bei den Vorbereitungen für die lange Fahrt habe ich genau darauf geachtet, alle Ersatzteile und alles Werkzeug mitzunehmen, falls ich den Rover unterwegs reparieren muss.
Zuerst baute ich die Kameras aus dem Reserveanzug aus. Dabei musste ich vorsichtig sein, weil ich den Anzug nicht beschädigen wollte, denn er ist meine letzte Reserve. Ich nahm die Kameras und die Kabel, die zu den Speicherchips führten, heraus.
Dann setzte ich ein Voltmeter in einen kleinen Probenbehälter und klebte die Kamera unten an den Deckel. Als der Behälter versiegelt war, zeichnete die Kamera den Ausschlag des Voltmeters auf.
Zum Testen benutzte ich den Strom des Rovers. Woher bekommt mein Messgerät den Strom, sobald ich es auf der Oberfläche abstelle? Es hängt an einer zwei Quadratmeter großen Solarzelle, die mehr als genug Strom liefert. Außerdem steckte ich einen kleinen Akku in den Behälter, um den Apparat über Nacht weiter mit Strom zu versorgen. Auch der Akku stammt aus dem Reserveanzug.
Das nächste Problem war die Wärme oder vielmehr der Mangel an Wärme. Sobald ich den Apparat aus dem Rover nehme, kühlt er sehr schnell ab. Wenn es zu kalt wird, arbeitet die Elektronik nicht mehr.
Also brauchte ich eine Wärmequelle. Mein Elektroniklabor lieferte die Antwort: Widerstände. Viele, viele Widerstände. Widerstände erwärmen sich. Dazu sind sie ja da. Die Kamera und das Voltmeter brauchen nur einen winzigen Bruchteil des Stroms, den ein Solarmodul erzeugt. Der Rest der Energie wird von Widerständen in Wärme umgewandelt.
Ich habe zwei “Stromzähler” gebaut und getestet und konnte bestätigen, dass die Bilder richtig aufgezeichnet wurden.
Dann unternahm ich eine EVA. Zwei meiner Solarzellen verband ich mit den Stromzählern und ließ die Apparate eine Stunde lang die Werte aufzeichnen. Sie haben wunderbar funktioniert.
Jetzt dämmert der Abend. Morgen früh lasse ich hier einen Stromzähler liegen und fahre nach Süden.
Während der Arbeit ließ ich den Oxygenator laufen. Warum auch nicht? So werden meine O2-Vorräte aufgefüllt, und ich kann die Reserven brauchen.
Der Wirkungsgrad der Solarmodule betrug heute 92,5 Prozent. Verglichen mit den 97 Prozent von gestern habe ich nun einen Beweis dafür, dass sich der Sturm von Ost nach West bewegt, weil der dichtere Teil des Sturms gestern im Osten lag.
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