Um Zeit zu sparen, hatte Mindy ebenfalls das Morsealphabet gelernt, damit sie nicht jeden Morgen jeden Buchstaben einzeln nachschlagen musste. Sie verfasste eine E-Mail für die stetig wachsende Liste der Leute, die Watneys tägliche Statusmeldungen erhalten wollten.
“IM PLAN FÜR ANKUNFT AN SOL 494.”
Sie runzelte die Stirn und fügte hinzu: “Anmerkung: In fünf Marstagen Kontakt mit dem Sturm.”
Logbuch: Sol 466
Das Mawrth Vallis war nett, solange ich es genießen durfte. Jetzt bin ich in Arabia Terra.
Wenn ich Länge und Breite richtig berechnet habe, befinde ich mich am äußersten Rand des Gebiets. Auch ohne Berechnungen ist schon für das bloße Auge erkennbar, dass sich das Gelände verändert hat.
Während der letzten beiden Marstage bin ich fast ständig bergauf gefahren und habe mich am Ende des Mawrth Vallis hinausgearbeitet. Es war ein sanfter, aber stetiger Anstieg. Jetzt bin ich viel höher. Acidalia Planitia (wo die einsame Wohnkuppel herumsteht) liegt 3000 Meter unter Normalhöhennull, Arabia Terra 500 Meter unter Normalhöhennull. Also bin ich zweieinhalb Kilometer höher.
Wollen Sie wissen, was Normalhöhennull bedeutet? Auf der Erde meint man damit die Meereshöhe, aber das scheidet auf dem Mars offensichtlich aus. Deshalb haben sich Fachidioten in Laborkitteln zusammengesetzt und beschlossen, dass dieser Höhenwert auf dem Mars dort ist, wo der Luftdruck 610,5 Pascal beträgt. Das ist etwa 500 Meter höher als mein jetziger Standort.
Jetzt wird es schwierig. Wenn ich in Acidalia Planitia vom Kurs abgekommen bin, habe ich den Rover anhand der neuen Daten einfach in eine andere Richtung gelenkt. Später im Mawrth Vallis konnte ich nichts falsch machen, weil ich einfach nur dem Canyon folgen musste.
Mittlerweile bin ich in einer unwirtlichen Gegend. Es ist die Art Gegend, wo man die Türen des Rovers verriegelt und an Kreuzungen möglichst nicht vollständig anhält. Nun ja, das ist übertrieben, aber es wäre hier ziemlich dumm, vom Kurs abzukommen.
Arabia Terra hat einige große, gemeine Krater, die ich umfahren muss. Wenn ich schlecht navigiere, lande ich am Rand eines Kraters. Ich kann nicht einfach hinunter- und auf der anderen Seite wieder hinauffahren. Höhenunterschiede zu bewältigen erfordert einen Haufen Energie. Auf ebenem Grund schaffe ich 90 Kilometer am Tag, auf einem steilen Hang kann ich von Glück reden, wenn es 40 sind. Außerdem ist es gefährlich, auf einem Hang zu fahren. Ein Fehler, und der Rover kippt um. Darüber will ich gar nicht weiter nachdenken.
Ja, irgendwann muss ich in den Schiaparelli-Krater hinunterfahren. Darum komme ich nicht herum. Ich muss dabei sehr vorsichtig sein.
Wie auch immer, wenn ich an einem Kraterrand stehe, muss ich zurückfahren und einen besseren Weg finden. Hier draußen gibt es allerdings einen wahren Irrgarten von Kratern. Ich muss vorsichtig sein und darf nicht in meiner Wachsamkeit nachlassen. Zum Navigieren benutze ich Landmarken und die Länge und Breite.
Die erste Herausforderung besteht darin, zwischen den Kratern Rutherford und Trouvelot hindurchzufahren. Sie sind 100 Kilometer voneinander entfernt. Dabei dürfte doch nicht einmal ich Mist bauen, oder?
Oder?
Logbuch: Sol 468
Zwischen Rutherford und Trouvelot habe ich mich hindurchgefädelt wie durch ein Nadelöhr. Na ja, das Nadelöhr war 100 Kilometer breit, aber immerhin.
Jetzt genieße ich den vierten Lufttag meiner Reise. Seit zwanzig Marstagen bin ich unterwegs. Bisher läuft alles nach Plan. Nach meinen Karten habe ich 1440 Kilometer zurückgelegt. Das ist nicht ganz die Hälfte der Strecke, aber beinahe.
An jedem Sol habe ich an meinem Lagerplatz Boden- und Gesteinsproben genommen. Das habe ich auch schon auf dem Weg zum Pathfinder getan. Dieses Mal weiß ich allerdings, dass mich die NASA beobachtet, also beschrifte ich jede Probe mit dem richtigen Marstag. Sie kennen meine Position viel genauer als ich selbst und können die Proben später mit den Ortsangaben zur Deckung bringen.
Vielleicht ist es eine verschwendete Mühe. Wenn ich starte, kann ich im MRM nicht viel zusätzliches Gewicht mitnehmen. Um die Hermes zu erreichen, muss es bis auf Fluchtgeschwindigkeit beschleunigen, aber es ist nur dazu gebaut, eine Umlaufbahn zu erreichen. Die einzige Möglichkeit, so schnell zu werden, besteht darin, eine Menge Gewicht abzuwerfen.
Diese Umbauten sind das Problem der NASA und nicht meins. Sobald ich das MRM erreiche, kann ich wieder Kontakt zur NASA aufnehmen, und sie werden mir sagen, welche Umbauten ich vornehmen soll.
Wahrscheinlich werden sie sagen: “Danke für die Proben, aber lasse sie lieber liegen. Außerdem musst du dir einen Arm abschneiden. Nimm den, den du am wenigsten magst.” Auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie gebraucht werden, sammle ich trotzdem die Proben.
Die kommenden paar Tage sollte die Fahrt wieder leichter werden. Das nächste große Hindernis ist der Marth-Krater. Er liegt direkt auf dem Weg nach Schiaparelli. Er wird mich einen Umweg von etwa 100 Kilometern kosten, aber dagegen kann ich nichts tun. Ich versuche, auf den Südrand zu zielen. Je näher ich an den Kraterrand herankomme, desto weniger Zeit verschwende ich mit Ausweichen.
“HABEN SIE DIE HEUTIGEN AKTUALISIERUNGEN gelesen?” Lewis holte ihr Essen aus der Mikrowelle.
“Ja.” Martinez nahm einen Schluck von seinem Getränk.
Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch in der Cafeteria und öffnete vorsichtig das dampfende Päckchen. Sie beschloss, das Essen noch etwas abkühlen zu lassen, ehe sie zulangte. “Mark ist gestern in den Staubsturm eingedrungen.”
“Ja, das habe ich gesehen”, antwortete er.
“Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, dass er es nicht bis Schiaparelli schafft”, sagte Lewis. “Wenn das passiert, müssen wir darauf achten, dass die Moral nicht sinkt. Es ist noch eine weite Reise bis nach Hause.”
“Er war schon einmal tot”, erwiderte Martinez. “Das hat die Stimmung gekippt, aber wir haben weitergemacht. Außerdem wird er nicht sterben.”
“Es sieht ziemlich übel aus, Rick”, widersprach Lewis. “Er ist schon fünfzig Kilometer tief in den Sturm eingedrungen und wird jeden Sol weitere neunzig Kilometer vorstoßen. Bald ist er zu tief drin, um sich noch zu retten.”
Martinez schüttelte den Kopf. “Er schafft das, Commander. Verlieren Sie nicht den Glauben.”
Sie lächelte wehmütig. “Rick, Sie wissen doch, dass ich kein religiöser Mensch bin.”
“Ich weiß”, stimmte er zu. “Aber ich meinte auch nicht den Glauben an Gott. Ich meine den Glauben an Mark Watney. Sehen Sie sich doch an, wie übel der Mars ihm mitgespielt hat, und er lebt immer noch. Er wird auch dies überleben. Ich weiß nicht wie, aber er wird es schaffen. Er ist ein gerissener Hund.”
Lewis probierte einen Bissen von ihrem Essen. “Ich hoffe, Sie haben recht.”
“Wollen wir um hundert Dollar wetten?”, gab er lächelnd zurück.
“Natürlich nicht”, erwiderte Lewis.
“Dachte ich’s mir doch.” Sein Lächeln wurde breiter.
“Ich wette nie darauf, dass ein Crewmitglied stirbt”, erwiderte Lewis. “Aber das heißt noch lange nicht, dass er …”
“Blabla”, fiel Martinez ihr ins Wort. “Tief drinnen glauben Sie doch auch, dass er es schafft.”
Logbuch: Sol 473
Es ist mein fünfter Lufttag, und es läuft gut. Morgen müsste ich den Südrand des Marth-Kraters erreichen. Danach wird es leichter.
Ich bin jetzt mitten zwischen drei Kratern, die ein Dreieck bilden. Ich nenne es das Watney-Dreieck, weil nach allem, was ich durchgemacht habe, irgendetwas auf dem Mars nach mir benannt werden sollte.
Trouvelot, Becquerel und Marth bilden die Endpunkte des Dreiecks, an den Seiten liegen fünf weitere große Krater. Normalerweise wäre das überhaupt kein Problem, aber dank meiner ungenauen Navigation steuere ich möglicherweise direkt auf den Rand eines Kraters zu und muss danach umkehren.
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