Die zweite Stufe trug das Schiff noch höher hinauf, bis es eine niedrige Umlaufbahn erreicht hatte. Sie brannte nicht so lange wie die riesige erste Stufe und erzeugte einen erheblich geringeren Schub, der beinahe wie ein Nachgedanke anmutete.
Abrupt schaltete sich der Antrieb ab, und nach dem Lärm herrschte drückende Stille.
“Hauptantrieb ist ausgeschaltet”, meldete Martinez. “Aufstiegszeit: acht Minuten, vierzehn Sekunden. Auf Kurs zum Rendezvous mit der Hermes.”
Normalerweise wäre ein glatt verlaufener Start ein Anlass zum Feiern gewesen. Dieses Mal schwiegen sie, nur Johannsens leises Schluchzen durchbrach die Stille.
Vier Monate später …
Beck dachte nicht gern an den schmerzlichen Grund, der ihn zwang, in der Schwerelosigkeit Pflanzenwuchsexperimente durchzuführen. Er notierte Größe und Form der Farnblätter, schoss Fotos und machte Notizen.
Als er die für diesen Tag vorgesehenen wissenschaftlichen Arbeiten erledigt hatte, sah er auf die Uhr. Er lag gut in der Zeit, bald war die Datenübertragung abgeschlossen. Er schwebte am Reaktor entlang zur Leiter der Halbkugel A.
Mit den Füßen voran segelte er an den Sprossen entlang, musste jedoch bald fest zugreifen, weil ihn die Rotationsschwerkraft des Schiffs erfasste. In der Halbkugel A herrschten 0,4 g.
Das war kein Luxus, denn die Rotationsschwerkraft der Hermes hielt sie in Form. Ohne die künstliche Schwerkraft hätten sie in der ersten Woche auf dem Mars kaum laufen können. Übungen bei null g hielten zwar das Herz und die Knochen gesund, aber es gab kein Training, das ihnen vom ersten Marstag an die vollen Körperfunktionen geben konnte.
Da das Schiff sowieso dafür ausgerüstet war, nutzten sie die Systeme auch beim Rückflug.
Johannsen saß an ihrem Pult, Lewis hockte neben ihr. Vogel und Martinez schwebten in der Nähe. Die Datenübertragung enthielt ihre E-Mails und Videos von zu Hause. Es war der Höhepunkt des Tages.
“Ist sie schon durch?”, fragte Beck, sobald er die Brücke betrat.
“Fast”, antwortete Johannsen. “Achtundneunzig Prozent.”
“Sie sehen so fröhlich aus, Martinez”, sagte Beck.
“Mein Sohn ist gestern drei geworden.” Er strahlte. “Da müssten ein paar Fotos von seiner Geburtstagsparty dabei sein. Und was ist mit Ihnen?”
“Nichts Besonderes”, antwortete Beck. “Rezensionen eines Artikels, den ich vor ein paar Jahren geschrieben habe.”
“Alles da”, erklärte Johannsen. “Die persönlichen E-Mails werden auf Ihre Notebooks geschickt. Für Vogel gibt es ein Telemetrie-Update, für mich ein Systemupdate. Oh … da ist eine Sprachnachricht für die ganze Crew.”
Sie drehte sich um und sah Lewis an.
Die Kommandantin zuckte mit den Achseln. “Spielen Sie’s ab.”
Johannsen öffnete die Datei und lehnte sich zurück.
“Hermes, hier ist Mitch Henderson”, begann die Botschaft.
“Henderson?”, fragte Martinez verwirrt. “Warum spricht der ohne CAPCOM mit uns?”
Lewis gebot ihm mit erhobener Hand Schweigen.
“Ich habe Neuigkeiten für Sie”, fuhr Mitch fort. “Es gibt keine schonende Art, es irgendwie zu umschreiben: Mark Watney hat überlebt.”
Johannsen keuchte.
“Was …”, stammelte Beck.
Vogel riss nur den Mund auf und starrte schockiert in die Runde.
Martinez wandte sich an Lewis. Sie beugte sich vor und knetete ihr Kinn.
“Ich weiß, wie sehr Sie dies überraschen muss”, fuhr Mitch fort, “und ich weiß, dass Sie eine Menge Fragen haben. Wir werden alle Fragen beantworten. Zuerst einmal schildere ich Ihnen die wichtigsten Fakten. Er lebt und ist wohlauf. Wir haben es vor zwei Monaten herausgefunden und beschlossen, es Ihnen nicht mitzuteilen. Wir haben sogar persönliche Mitteilungen zensiert. Ich war entschieden gegen diese Maßnahmen. Wir sagen es Ihnen jetzt, weil wir endlich mit ihm kommunizieren können und einen brauchbaren Rettungsplan entwickeln. Es läuft darauf hinaus, dass Ares 4 ihn mit einem modifizierten MLM abholt. Wir schicken Ihnen noch eine ausführliche Schilderung der Ereignisse, aber es ist definitiv nicht Ihre Schuld. Mark betont das jedes Mal, wenn es ihm geboten scheint. Es war einfach nur Pech. Lassen Sie sich etwas Zeit, die Neuigkeit zu verdauen. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten werden bis morgen ausgesetzt. Schicken Sie mir alle Fragen, die Sie stellen wollen, und wir werden sie beantworten. Henderson Ende.”
Danach herrschte betroffenes Schweigen auf der Brücke.
“Mensch … er lebt noch?”, sagte Martinez. Dann grinste er.
Vogel nickte aufgeregt. “Er lebt noch.”
Johannsen starrte mit weit aufgerissenen Augen fassungslos den Bildschirm an.
“Heilige Scheiße”, lachte Beck. “Heilige Scheiße! Commander, er lebt noch!”
“Ich habe ihn zurückgelassen”, antwortete Lewis leise.
Den Crewmitgliedern verging schlagartig die Feierlaune, als sie die Miene ihrer Kommandantin bemerkten.
“Aber”, setzte Beck an, “wir haben ihn doch alle …”
“Sie haben meine Befehle ausgeführt”, fiel Lewis ihm ins Wort. “Ich habe ihn zurückgelassen. In einer kahlen, unerreichbaren, gottverdammten Einöde.”
Beck sah Martinez flehend an. Der Pilot öffnete den Mund, doch ihm fiel nichts ein, was er sagen konnte.
Lewis schlurfte hinaus.
13
DIE ANGESTELLTEN VON DEYO PLASTICS mussten in Doppelschichten arbeiten, um die Plane für Ares 3 fertigzustellen. Sogar von Dreifachschichten war die Rede, falls die NASA noch einmal die Bestellung aufstockte. Daran störte sich niemand, denn die Überstundenvergütung war spektakulär, und die Finanzierung kannte keine Grenzen.
Geflochtene Kohlenstofffäden liefen langsam durch die Presse, die sie mit Polymerbahnen verkleidete. Das fertig konstruierte Material wurde viermal gefaltet und verleimt. Die daraus entstehende dicke Plane wurde noch einmal mit weichem Harz überzogen und in den Wärmeraum gebracht, wo sie aushärten konnte.
Logbuch: Sol 114
Jetzt, da die NASA mit mir reden kann, hält sie einfach nicht mehr die Klappe.
Sie verlangen ständig Updates für alle Systeme der Wohnkuppel, und sie haben einen ganzen Raum voller Leute, die sich um jede meiner Pflanzen einzeln kümmern. Es ist der Wahnsinn, dass ein Haufen Penner auf der Erde mir, einem Botaniker, erklären will, wie man Pflanzen anbaut.
Meist ignoriere ich sie einfach. Ich will nicht arrogant erscheinen, aber ich bin der beste Botaniker auf diesem Planeten.
Eine schöne Neuerung ist, dass ich E-Mails bekomme! Wie damals auf der Hermes bekomme ich Datensendungen. Die E-Mails meiner Freunde und Angehörigen leiten sie sowieso weiter, aber die NASA schickt mir außerdem noch ausgewählte Zuschriften aus der Bevölkerung. Ich bekomme E-Mails von Rockstars, Sportlern, Schauspielern und Schauspielerinnen und sogar vom Präsidenten.
Eine kam von meiner Alma Mater, der University of Chicago. Dort heißt es, wenn man irgendwo Nahrung anbaut, dann hat man offiziell ein Stück Land kolonisiert. Also habe ich genau genommen den Mars kolonisiert.
Das mach mir mal nach, Neil Armstrong!
Die schönste E-Mail kam von meiner Mutter. Es war genau das, was man erwartet hätte: Gott sei Dank, dass du noch lebst, lass dich nicht unterkriegen, stirb mir ja nicht, dein Vater lässt dich grüßen und so weiter.
Ich habe sie fünfzigmal hintereinander gelesen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin kein Muttersöhnchen oder so. Ich bin ein erwachsener Mann, der nur selten Windeln trägt (nur in einem EVA-Anzug muss man welche anlegen). Es ist völlig männlich und normal, dass mir ein Brief meiner Mutter so wichtig ist. Deshalb bin ich noch lange kein heimwehkrankes Kind im Ferienlager, oder?
Unterdessen muss ich fünfmal am Tag zum Rover marschieren, um die Mails abzuholen. Sie können Nachrichten von der Erde zum Mars schicken, nur die zehn Meter bis zur Wohnkuppel schaffen sie nicht. Aber ich will mich nicht beklagen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich dies hier überlebe, ist jetzt erheblich größer.
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