Nach einer Weile fragte Lewis: “Wie viele Proben brauchen Sie?”
“Wenn jeder von Ihnen sieben Proben nehmen könnte?”
“In Ordnung”, bestätigte Lewis. “Bis jetzt habe ich vier.”
“Ich habe fünf”, meldete Martinez. “Wie üblich kann die Navy nicht mithalten, wenn die Air Force im Einsatz ist.”
“Ach, so sehen Sie das also?”, erwiderte Lewis.
“Ich beschreibe nur, was ich wahrnehme, Commander.”
“Johannsen hier”, meldete sich der weibliche Sysop über Funk. “Houston hat den Sturm auf ›schwer‹ heraufgestuft. In fünfzehn Minuten ist er hier.”
“Zurück zum Stützpunkt”, befahl Lewis.
Die Wohnkuppel bebte im brüllenden Wind, während die Astronauten im Zentrum kauerten. Alle sechs trugen vorsorglich die Anzüge für Raumflüge, falls sie zum MRM laufen und einen Notstart durchführen mussten. Johannsen betrachtete ihr Notebook, die anderen beobachteten sie.
“Der Wind bleibt jetzt ständig über einhundert km/h”, sagte sie. “Böen bis zu zwofünfzig.”
“Jesus, wir landen alle noch in Oz”, meinte Watney. “Wie ist die Windgeschwindigkeit, bei der wir abbrechen?”
“Genau genommen hundertfünfzig km/h”, antwortete Martinez. “Darüber könnte das MRM umkippen.”
“Gibt es Vorhersagen, wohin der Sturm zieht?”, fragte Lewis.
“Das hier ist der Rand.” Johannsen starrte den Bildschirm an. “Es wird schlimmer, ehe es wieder besser wird.”
Die Plane der Wohnkuppel wellte sich unter dem brutalen Ansturm, die inneren Stützen verbogen sich und bebten bei jeder Bö. Mit jeder Minute wurde der Lärm lauter.
“In Ordnung”, erklärte Lewis. “Bereiten Sie sich auf den Abbruch vor. Wir gehen zum MRM und hoffen das Beste. Wenn der Wind zu stark wird, starten wir.”
Sie verließen die Wohnkuppel jeweils zu zweit und versammelten sich vor der Luftschleuse 1. Der Wind überschüttete sie mit Sand, doch sie konnten sich noch auf den Beinen halten.
“Sichtweite ist beinahe null”, sagte Lewis. “Wenn Sie sich verirren, peilen Sie meinen Anzug an. Der Wind wird heftiger, wenn wir uns von der Wohnkuppel entfernen, also bereiten Sie sich darauf vor.”
Sie kämpften sich durch den Sturm und stolperten zum MRM. Lewis und Beck gingen vorne, Watney und Johannsen bildeten die Nachhut.
“He”, keuchte Watney. “Vielleicht könnten wir das MRM festzurren, damit es nicht so leicht umkippt.”
“Wie denn?”, fragte Lewis aufgebracht.
“Wir könnten die Kabel der Solaranlage als Spannseile benutzen.” Er keuchte einige Augenblicke, ehe er fortfuhr. “Die Rover könnten die Anker sein. Das Problem wäre nur, das Kabel rings um die …”
Fliegende Trümmerteile trafen Watney und rissen ihn mit.
“Watney!”, rief Johannsen.
“Was ist passiert?”, fragte Lewis.
“Etwas hat ihn getroffen”, antwortete Johannsen.
“Watney, melden Sie sich”, befahl Lewis.
Keine Antwort.
“Watney, Meldung”, verlangte Lewis noch einmal.
Wieder bekam sie keine Antwort.
“Er ist offline”, berichtete Johannsen. “Ich weiß nicht, wo er steckt!”
“Commander”, sagte Beck. “Ehe wir die Telemetrie verloren haben, hat sein Dekompressionsalarm ausgelöst.”
“Verdammt!”, rief Lewis. “Johannsen, wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?”
“Er war gleich vor mir, und dann war er weg. Er ist direkt nach Westen geflogen.”
“Also gut”, entschied Lewis. “Martinez, Sie gehen zum MRM und bereiten den Start vor. Alle anderen sammeln sich bei Johannsen.”
“Dr. Beck”, fragte Vogel, der durch den Sturm stolperte. “Wie lange kann ein Mensch den Druckabfall überleben?”
“Weniger als eine Minute”, antwortete der Arzt mit erstickter Stimme.
“Ich kann nichts sehen”, erklärte Johannsen, als die Crew sie umringte.
“Wir bilden eine Kette und gehen nach Westen”, befahl Lewis. “Kleine Schritte. Wahrscheinlich liegt er am Boden, und wir wollen nicht auf ihn treten.”
Sie blieben untereinander in Sichtweite und stampften durch das Chaos.
Martinez stürzte in die Luftschleuse des MRM und konnte sie im Wind nur mit Mühe schließen. Sobald der Druckausgleich hergestellt war, legte er rasch den Anzug ab, stieg die Leiter zum Cockpit hinauf, ließ sich auf dem Pilotensitz nieder und startete das System.
Mit einer Hand nahm er die Checkliste für einen Notstart zur Hand, mit der anderen legte er rasch die Schalter um. Nacheinander meldeten die Systeme, dass sie flugbereit waren. Ein Gerät behielt er besonders im Auge.
“Commander”, funkte er. “Das MRM hat eine Schieflage von sieben Grad. Bei 12,3 Grad kippt es um.”
“Verstanden”, antwortete Lewis.
“Johannsen”, sagte Beck mit einem Blick auf seinen Armcomputer. “Kurz vor dem Ausfall hat Watneys Biomonitor noch etwas gesendet. Mein Computer behauptet aber, ein Datenpaket sei nicht lesbar.”
“Das habe ich auch bekommen”, antwortete Johannsen. “Die Sendung war unvollständig. Einige Daten fehlen, und es gibt keine Prüfsumme. Ich brauche noch einen Moment.”
“Commander”, ließ sich wieder Martinez vernehmen. “Eine Nachricht von Houston. Wir haben einen offiziellen Abbruchbefehl bekommen. Der Sturm wird eindeutig zu stark.”
“Verstanden”, antwortete Lewis.
“Sie haben die Nachricht vor viereinhalb Minuten geschickt”, fuhr Martinez fort. “Der Befehl beruht auf neun Minuten alten Satellitendaten.”
“Verstanden”, wiederholte Lewis. “Bereiten Sie weiter den Start vor.”
“In Ordnung”, bestätigte Martinez.
“Beck”, meldete sich Johannsen, “ich habe jetzt die Rohdaten. Es ist Klartext: BD 0, PF 0, TP 36,2. Mehr ist nicht da.”
“Verstanden”, entgegnete Beck bedrückt. “Blutdruck null, Pulsfrequenz null, Temperatur normal.”
Auf dem Funkkanal herrschte vorübergehend Stille. Sie stapften weiter, schlurften durch den Sturm und hofften auf ein Wunder.
“Temperatur normal?”, fragte Lewis, die anscheinend einen Hoffnungsschimmer sah.
“Es dauert eine Weile, bis der …”, stammelte Beck. “Das Abkühlen dauert eine Weile.”
“Commander”, sagte Martinez. “Wir liegen jetzt bei 10,5 Grad, in Böen schon bei elf.”
“Verstanden”, bestätigte Lewis. “Können Sie jederzeit starten?”
“Korrekt”, antwortete Martinez. “Wir können jederzeit abheben.”
“Falls das MRM kippt, können Sie dann noch starten, bevor es endgültig umstürzt?”
“Äh.” Mit dieser Frage hatte Martinez nicht gerechnet. “Ja, Madam. Ich könnte manuell steuern und vollen Schub geben, dann ziehe ich den Bug hoch und kehre zu dem vorprogrammierten Aufstieg zurück.”
“Verstanden”, antwortete Lewis. “Alle peilen jetzt Martinez’ Anzug an, so kommen Sie zur Luftschleuse des MRM. Steigen Sie ein und bereiten Sie sich auf den Start vor.”
“Was haben Sie vor, Commander?”, fragte Beck.
“Ich suche noch eine Weile. Machen Sie schon. Martinez, wenn Sie zu kippen beginnen, starten Sie.”
“Glauben Sie wirklich, ich lasse Sie zurück?”, fragte Martinez.
“Ich habe es Ihnen gerade befohlen. Ihr drei geht zum Schiff.”
Widerwillig gehorchten sie dem Befehl und schleppten sich zum MRM. In dem unerbittlichen Wind mussten sie sich jeden Schritt erkämpfen.
Ohne überhaupt den Boden sehen zu können, schlurfte Lewis weiter. Dann fiel ihr etwas ein, und sie griff nach hinten und zog zwei Bohrspitzen für Gesteinsproben hervor. Die einen Meter langen Spitzen hatte sie am Morgen zu ihrer Ausrüstung hinzugefügt, weil sie die Absicht gehabt hatte, später an diesem Tag geologische Proben zu nehmen. Sie nahm eine Spitze in jede Hand und zog sie beim Gehen durch den Sand.
Nach zwanzig Metern machte sie kehrt und ging in die entgegengesetzte Richtung. Es war unmöglich, in gerader Linie zu laufen. Ihr fehlten nicht nur sichtbare Bezugspunkte, sondern sie wurde auch von dem starken Wind vom Kurs abgebracht. Bei jedem Schritt wurden ihre Füße vom wehenden Sand fast begraben. Keuchend tappte sie weiter.
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