Beck, Johannsen und Vogel zwängten sich in die Luftschleuse des MRM. Sie war für zwei Personen gedacht und konnte im Notfall von dreien benutzt werden. Als der Druckausgleich hergestellt war, hörten sie Lewis’ Stimme im Funk.
“Johannsen”, sagte die Kommandantin, “können uns die Infrarotkameras der Rover helfen?”
“Negativ”, antwortete Johannsen. “Infrarot durchdringt den Sand so wenig wie sichtbares Licht.”
“Was denkt sie sich nur dabei?”, meinte Beck, als er seinen Helm abgenommen hatte. “Sie ist Geologin und muss doch wissen, dass Infrarot keinen Sandsturm durchdringen kann.”
“Sie greift nach Strohhalmen.” Vogel öffnete die innere Tür. “Wir müssen uns anschnallen. Beeilt euch bitte.”
“Ich habe kein gutes Gefühl dabei”, meinte Beck.
“Ich auch nicht, Doktor”, stimmte Vogel zu, der schon die Leiter hochstieg. “Aber die Kommandantin hat uns einen Befehl erteilt, und Befehlsverweigerung hilft uns jetzt bestimmt nicht.”
“Commander”, funkte Martinez. “Wir sind jetzt bei 11,6 Grad Schieflage. Noch eine Bö, und wir kippen.”
“Was ist mit dem Radar?”, fragte Lewis. “Könnte es Watneys Anzug entdecken?”
“Keinesfalls”, antwortete Martinez. “Es soll die Hermes in der Umlaufbahn anpeilen, aber nicht das Metall in einem einzigen Raumanzug.”
“Versuchen Sie es trotzdem”, ordnete Lewis an.
“Commander.” Beck hatte sich gerade auf der Andruckliege niedergelassen und seinen Kopfhörer aufgesetzt. “Ich weiß, dass Sie es nicht gern hören, aber Watn… Mark ist tot.”
“Verstanden”, antwortete Lewis. “Martinez, versuchen Sie es mit dem Radar.”
“Roger”, bestätigte Martinez.
Er schaltete das Radar ein und wartete, während der Selbsttest durchlief. Dabei funkelte er Beck an. “Was ist nur mit Ihnen los?”
“Mein Freund ist gerade gestorben”, erwiderte Beck. “Ich will nicht, dass auch noch meine Kommandantin stirbt.”
Martinez sah ihn streng an. Dann richtete er die Aufmerksamkeit wieder auf das Radar. “Kein Kontakt in der Umgebung”, funkte er.
“Nichts?”, fragte Lewis.
“Ich kann kaum die Wohnkuppel erkennen”, erwiderte der Pilot. “Der Sandsturm bringt alles durcheinander. Auch ohne ihn wäre nicht genug Metall in dem … verdammt!”
“Anschnallen!”, rief er der Crew zu. “Wir kippen!”
Stöhnend legt sich das MRM schief.
“Dreizehn Grad”, rief Johannsen von ihrer Liege aus.
Vogel wand sich in den Gurten. “Wir haben jetzt schon das Gleichgewicht verloren. Wir kommen nicht mehr hoch.”
“Wir können Lewis nicht zurücklassen”, schrie Beck. “Lassen Sie das Ding kippen, das bringen wir wieder in Ordnung!”
“Zweiunddreißig Tonnen einschließlich Treibstoff?”, widersprach Martinez. Seine Hände tanzten auf der Steuerung. “Wenn wir aufschlagen, werden die Tanks, die Träger und wahrscheinlich auch der Antrieb der zweiten Stufe beschädigt. Das können wir nicht reparieren.”
“Wir können sie nicht zurücklassen!”, beharrte Beck. “Das können Sie nicht machen.”
“Es gibt noch einen Trick. Wenn der nicht funktioniert, befolge ich ihren Befehl.”
Er aktivierte die Steuerdüsen für den Orbitalflug und ließ die Bugdüsen einen Strahl ausstoßen. Die kleinen Düsen kämpften gegen die gewaltige Masse des langsam umkippenden Raumschiffs an.
“Setzen Sie jetzt die Steuerdüsen ein?”, fragte Vogel.
“Ich weiß nicht, ob es klappt. Wir kippen nicht sehr schnell”, erwiderte Martinez. “Ich glaube, es wird langsamer …”
“Die Deckel, die der Aerodynamik dienen sollten, sind jetzt abgesprengt”, gab Vogel zu bedenken. “Mit drei Löchern in der Seite wird es ein holpriger Aufstieg.”
“Danke für den Hinweis”, antwortete Martinez. Er gab weiter Schub und beobachtete den Neigungswinkel. “Mach schon …”
“Immer noch dreizehn Grad”, meldete Johannsen.
“Was ist da oben los?”, fragte Lewis. “Sie sagen nichts mehr. Antworten Sie.”
“Warten Sie”, gab Martinez zurück.
“Zwölf Komma neun Grad”, meldete Johannsen.
“Es funktioniert”, sagte Vogel.
“Im Moment schon”, erwiderte Martinez. “Ich weiß nur nicht, wie lange der Treibstoff für die Steuerdüsen reicht.”
“Zwölf Komma acht Grad”, sagte Johannsen.
“Manövriertreibstoff bei sechzig Prozent”, überlegte Beck. “Wie viel brauchen Sie, um bei der Hermes anzudocken?”
“Zehn Prozent, wenn ich keinen Mist baue.” Martinez veränderte den Abstrahlwinkel der Steuerdüsen.
“Zwölf Komma sechs”, sagte Johannsen. “Wir kippen zurück.”
“Oder der Wind ist etwas abgeflaut”, warf Beck ein. “Treibstoff bei fünfundvierzig Prozent.”
“Die Düsen könnten beschädigt werden”, warnte Vogel. “Sie sind nicht für Dauerschub gebaut.”
“Ich weiß”, erwiderte Martinez. “Wenn nötig, kann ich auch ohne Bugdüsen andocken.”
“Wir haben es fast geschafft …”, sagte Johannsen. “Gut, jetzt sind wir unter zwölf Komma drei.”
“Schalte Schubdüsen ab”, verkündete Martinez.
“Wir kippen immer noch zurück”, sagte Johannsen. “11,6 … 11,5 … stabil bei 11,5.”
“Manövriertreibstoff bei zweiundzwanzig Prozent”, meldete Beck.
“Ja, das sehe ich”, antwortete Martinez. “Das reicht.”
“Commander”, funkte Beck, “Sie müssen jetzt zum Schiff kommen.”
“Zustimmung”, ergänzte Martinez. “Er ist tot, Madam. Watney ist tot.”
Die vier Crewmitglieder warteten auf die Antwort ihrer Kommandantin.
“Verstanden”, antwortete sie endlich. “Bin unterwegs.”
Schweigend lagen sie in den Gurten, alles war für den Start bereit. Beck blickte zu Watneys leerer Liege und bemerkte, dass auch Vogel dorthin sah. Martinez führte einen Selbsttest der Bugdüsen durch. Sie konnten nicht mehr gefahrlos benutzt werden. Er notierte die Fehlfunktion in seinem Logbuch.
Die Luftschleuse arbeitete. Nachdem sie den Anzug abgelegt hatte, kam Lewis ins Cockpit und schnallte sich mit versteinerter Miene wortlos an. Nur Martinez wagte es, etwas zu sagen.
“Wir können dann”, meldete er leise. “Wir sind startbereit.”
Lewis schloss die Augen und nickte.
“Tut mir leid, Commander”, sagte Martinez. “Sie müssen einen ausdrücklichen Befehl …”
“Starten Sie”, sagte sie.
“Ja, Madam.” Er löste die Startprozedur aus.
Die Klammern lösten sich vom Startgerüst und fielen zu Boden. Einige Sekunden später begann der Zündvorgang, dann sprang der Hauptantrieb an, und das MRM stieg ruckend empor.
Langsam beschleunigte das Schiff. Der Wind drückte es zur Seite. Die Software, die den Start steuerte, bemerkte die Abweichung und stellte das Schiff schräg in den Wind, um die Bewegung auszugleichen.
Je mehr Treibstoff verbraucht wurde, desto leichter wurde das Schiff und desto stärker konnte es beschleunigen. Es stieg mit exponentieller Beschleunigung und erreichte bald die Höchstgeschwindigkeit, die nicht durch die Kraft des Antriebs, sondern durch die empfindlichen menschlichen Körper im Inneren bestimmt wurde.
Sobald das Schiff flog, machten sich die offenen Nischen der Steuerdüsen bemerkbar. Die Crew wurde auf den Liegen heftig durchgeschüttelt, während das ganze Schiff stark bebte. Martinez und die Startsoftware hielten es auf Kurs, mussten aber ständig um die Stabilität kämpfen. Dann ließen die Turbulenzen nach und hörten schließlich ganz auf, sobald die Atmosphäre dünn genug wurde.
Auf einmal brach auch der Schub ab. Die erste Stufe war ausgebrannt. Ein paar Sekunden lang war die Crew schwerelos, dann wurden sie wieder auf die Liegen gepresst, als die nächste Stufe ansprang. Draußen stürzte die leer gebrannte erste Stufe zu Boden und würde in einem unbekannten Gebiet des Planeten zerschellen.
Читать дальше