“Danke.” Irene rückte das angeklemmte Mikrofon zurecht.
“Kennen Sie Mark Watney persönlich?”
“Aber natürlich”, bestätigte Irene. “Einmal im Monat habe ich die psychische Verfassung aller Crewmitglieder untersucht.”
“Was können Sie über ihn sagen? Über seine Persönlichkeit und seine Lebenseinstellung?”
“Nun ja”, überlegte Irene. “Er ist sehr intelligent. Das sind sie natürlich alle, aber er ist besonders findig und ein guter Problemlöser.”
“Das könnte ihm das Leben retten”, warf Cathy ein.
“So ist es”, stimmte Irene zu. “Außerdem ist er gutmütig. Normalerweise fröhlich mit einem stark entwickelten Humor. Er ist immer schnell mit einem Scherz zur Hand. In den Monaten vor dem Start hat die Crew ein furchtbar anstrengendes Trainingsprogramm absolviert. Allen war die Belastung anzumerken, allen ist es aufs Gemüt geschlagen. Mark war keine Ausnahme, doch seine Art, damit umzugehen, bestand darin, noch mehr Witze zu reißen und alle zum Lachen zu bringen.”
“Anscheinend ist er ein wundervoller Zeitgenosse”, meinte Cathy.
“Das ist er”, ergänzte Irene. “Teilweise wurde er auch wegen seiner Persönlichkeit für die Mission ausgewählt. Eine Ares-Crew muss dreizehn Monate zusammen verbringen. Die soziale Verträglichkeit ist dabei entscheidend. Mark fügt sich gut in jede soziale Gruppe ein und ist außerdem ein Katalysator, der die Gruppe beflügelt, damit sie besser arbeitet. Es war ein schrecklicher Schlag für die Mitglieder seiner Crew, als sie ihn für tot hielten.”
“Das glauben sie immer noch, oder? Die Ares-3-Crew hält ihn immer noch für tot.”
“Ja, leider”, bestätigte Irene. “Die Vorgesetzten haben beschlossen, es ihnen zumindest vorläufig zu verheimlichen. Ich bin sicher, dass ihnen die Entscheidung nicht leichtgefallen ist.”
Cathy hielt einen Augenblick inne, ehe sie fortfuhr. “Nun gut, Sie wissen, dass ich Ihnen diese Frage stellen muss: Was geht ihm jetzt gerade durch den Kopf? Wie reagiert ein Mann wie Mark Watney auf so eine Situation? Er ist dort gestrandet und ganz allein und hat keine Ahnung, dass wir ihm helfen wollen.”
“Das kann man nicht mit Sicherheit sagen”, antwortete Irene. “Die größte Gefahr ist die Mutlosigkeit. Wenn er zu der Ansicht gelangt, dass er sowieso nicht überleben kann, dann hört er auf, sich zu bemühen.”
“Demnach müsste doch im Augenblick alles in Ordnung sein, oder?”, fragte Cathy. “Anscheinend arbeitet er hart, bereitet den Rover auf eine lange Fahrt vor und testet ihn. Offenbar will er zur Stelle sein, wenn Ares 4 landet.”
“Das ist eine denkbare Interpretation, ja”, sagte Irene.
“Gibt es denn noch eine andere?”
Irene dachte einen Moment über die Antwort nach. “Wenn sie der Tod bedroht, wollen sich viele Menschen Gehör verschaffen. Sie wollen nicht allein sterben. Vielleicht will er nur das Funkgerät des MLM erreichen, damit er vor dem Ende noch einmal mit einem anderen Menschen sprechen kann. Falls er die Hoffnung verliert, kümmert er sich nicht mehr um sein Überleben. Dann will er nur noch das Funkgerät erreichen, und danach wird er vermutlich einen einfacheren Ausweg als das Verhungern wählen. Im medizinischen Vorrat einer Ares-Mission befindet sich genügend Morphium für eine tödliche Dosis.”
Nachdem im Studio mehrere Sekunden lang tiefe Stille geherrscht hatte, drehte Cathy sich wieder zur Kamera um. “Wir sind gleich wieder da.”
“Hallo, Venk”, tönte Bruces Stimme aus dem Lautsprecher auf dem Schreibtisch.
“Hallo, Bruce”, antwortete Venkat, während er etwas in den Computer eintippte. “Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Ich möchte mit Ihnen über die Vorablieferungen sprechen.”
“Aber gern. Woran denken Sie jetzt?”
“Nehmen wir mal an, wir bekommen eine perfekte weiche Landung hin. Wie erfährt Mark, dass wir ihm etwas geschickt haben? Und wie sagen wir ihm, wo er nachsehen muss?”
“Darüber haben wir nachgedacht und einige Ideen entwickelt”, antwortete Bruce.
“Ich bin ganz Ohr.” Venkat speicherte das Dokument und klappte das Notebook zu.
“Wir schicken ihm doch sowieso ein Comm-System, oder? Wir könnten es nach der Landung einschalten. Es sendet auf den Frequenzen des Rovers und der EVA-Anzüge. Natürlich muss es einen starken Sender haben. Die Rover wurden eigentlich nur darauf ausgelegt, untereinander und mit der Wohnkuppel zu kommunizieren. Wir sind davon ausgegangen, dass sich die Quelle des Signals in einem Umkreis von zwanzig Kilometern befindet. Die Empfänger sind nicht sehr empfindlich. Bei den EVA-Anzügen ist es sogar noch schlimmer. Aber wenn wir ein starkes Signal abstrahlen können, müsste es klappen. Sobald wir die Vorauslieferung abgesetzt haben, verraten uns die Satelliten die exakte Position, und diese Daten können wir an Mark senden, damit er sie abholen kann.”
“Wahrscheinlich hört er gar nicht zu”, gab Venkat zu bedenken. “Warum sollte er das Funkgerät einschalten?”
“Auch dafür haben wir uns etwas ausgedacht. Wir werden eine Reihe hellgrüner Bänder herstellen. Leicht genug, damit sie beim Abwurf auch in der dünnen Marsatmosphäre flattern. Auf den Bändern wird der Satz stehen: MARK, SCHALTEN SIE DEN COMM EIN. Wir arbeiten jetzt an einem Mechanismus für die Freisetzung, der natürlich erst kurz vor der Landung ansprechen wird. Im Idealfall etwa tausend Meter über dem Boden.”
“Das gefällt mir”, antwortete Venkat. “Er muss nur ein einziges davon bemerken, und ein hellgrünes Band wird ihm auffallen, sobald er sich draußen bewegt.”
“Venk”, gab Bruce zu bedenken, “wenn er mit seinem Watneymobil zu Ares 4 fährt, ist alles umsonst. Ich meine, wir können die Lieferung auch bei Ares 4 absetzen, wenn es nötig ist, aber …”
“Ja, dort hat er keine Wohnkuppel”, ergänzte Venkat. “Eins nach dem anderen. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie einen brauchbaren Mechanismus für die Bänder gefunden haben.”
“Auf jeden Fall.”
Nach dem Anruf fuhr Venkat mit seiner Arbeit fort. Eine E-Mail von Mindy Park wartete auf ihn: “Watney ist wieder unterwegs.”
“Er fährt nach wie vor geradeaus”, berichtete Mindy, indem sie auf den Bildschirm deutete.
“Ich sehe es”, stimmte Venkat zu. “Er will auf keinen Fall zu Ares 4, es sei denn, er weicht einem natürlichen Hindernis aus.”
“Es gibt dort nichts, was er umfahren müsste”, widersprach Mindy. “Er ist in Acidalia Planitia.”
“Sind das da die Solarzellen?” Venkat zeigte auf eine Stelle auf dem Bildschirm.
“Ja”, bestätigte Mindy. “Er ist wie gewohnt zwei Stunden gefahren, war kurz draußen und fuhr abermals zwei Stunden. Jetzt ist er hundertsechsundfünfzig Kilometer von der Wohnkuppel entfernt.”
Beide starrten den Bildschirm an.
“Warten Sie mal …”, sagte Venkat plötzlich. “Warten Sie … aber das kann doch nicht sein!”
“Was denn?”, fragte Mindy.
Venkat schnappte sich einen Block mit Klebezetteln und einen Stift. “Nennen Sie mir seine Position und den Standort der Wohnkuppel.”
Mindy blickte auf den Bildschirm. “Er ist jetzt bei … 28,9 Grad Nord, 29,6 Grad West.” Ein paar Tasten klapperten, und sie hatte eine andere Datei aufgerufen. “Die Wohnkuppel steht auf 31,2 Grad Nord und 28,5 Grad West. Ist Ihnen etwas aufgefallen?”
Venkat schrieb die Zahlen nieder. “Kommen Sie mit”, sagte er und ging rasch hinaus.
“Ähm”, machte Mindy und folgte ihm. “Wohin wollen Sie?”
“In den Pausenraum der SatCon”, sagte Venkat. “Hängt da noch die Marskarte an der Wand?”
“Aber klar”, bestätigte Mindy. “Das ist aber nur ein Poster aus dem Andenkenladen. Ich habe hochauflösende digitale Karten im Computer …”
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