Als er sich aber so dem eigenen Ich gegenübersah, als er diese Begegnung nun endgültig begriffen und verarbeitet hatte, machte er sich auf die Suche nach den Spuren jener beiden anderen Menschen, die jenseits der angehaltenen Zeit zurückgeblieben waren — auf die Suche nach Vater und Mutter.
Die Mutter zu finden war leichter. Sie war von hier fortgerannt, ihn, Oleg, auf dem Arm, und so lag auf ihrem Bett im Hintergrund der Kajüte — ein geknülltes Häufchen — ihr in aller Hast abgestreifter Morgenrock. Ein Hausschuh schaute unter dem Bett hervor; das Buch, in ein Blatt Papier geschlagen, lag auf dem Kissen. Oleg hob das Buch auf, vorsichtig, weil er fürchtete, es könnte zerfallen wie jene Pflanze im Korridor. Doch das Buch hatte den Frost bestens überstanden. Es trug den Titel „Anna Karenina“ und war von einem Mann namens Tolstoi geschrieben. Es war ein dickes Buch, und auf dem Lesezeichen darin waren ein paar Formeln hingekritzelt “
die Mutter war Chemikerin. Oleg hatte noch nie die Handschrift seiner Mutter gesehen — im Dorf gab es kein Papier zum Schreiben. Er hatte auch noch nie ein Buch zu Gesicht bekommen, denn niemandem war es in jenem Moment eingefallen, so etwas mitzunehmen. Oleg hatte den Namen des Schriftstellers im Unterricht gehört, bei Tante Luisa, er hätte aber nie gedacht, daß jemand so ein dickes Buch schreiben könnte. Er nahm es mit dem festen Entschluß an sich: Und würde der Rückweg noch so schwer werden — das Buch mußte mit. Ebenso wie das Blatt Papier mit den Formeln. Nach einigem Überlegen packte er auch die Hausschuhe der Mutter in den Sack. Sie kamen ihm zwar reichlich eng vor für die alten kaputten Füße der Mutter, doch sie sollte sie wiederhaben.
Die Spuren des Vaters dagegen, so dinglich augenscheinlich sie waren, übten auf Oleg erstaunlicherweise weniger Wirkung aus als die Begegnung mit sich selbst. Es mußte daran liegen, daß der Vater zum Zeitpunkt der Katastrophe nicht bei ihnen gewesen war. Kurz vorher zum Wachdienst aufgebrochen, hatte er als akkurater Mensch, der keine Unordnung duldete, gründlich aufgeräumt. Seine Bücher standen hinter Glas aufgereiht im Regal, die Sachen hingen in einem Wandschrank … Oleg holte die Uniform des Vaters heraus — er hatte sie auf dem Schiff offenbar nie getragen, denn sie wirkte, aus blauem, kräftigem Stoff gefertigt, noch fast neu. Auf der Brust befanden sich oberhalb der Jackentasche zwei Sternchen, und die Hose war mit schmalen Goldlitzen versehen. Oleg hielt sich die Uniform an, sie war ihm etwas zu groß. Er zog die Jacke über seine, und sie paßte ihm fast, nur die Ärmel mußte er ein Stück umschlagen; ebenso ging es ihm mit den Hosenbeinen. Er fühlte sich bequem in der Uniform und glaubte sich auch im Recht: Wäre der Vater bei ihnen im Dorf, hätte er ihm gewiß erlaubt, sie hin und wieder anzuziehn.
Jetzt hatte Oleg endgültig Besitz vom Schiff ergriffen.
Er war überzeugt, daß er, wieder in den Wald zurückgekehrt, immer Sehnsucht nach ihm haben würde.
Es würde ihn zum Schiff ziehn wie den Alten, wie Thomas, und er sah auch nichts Verwerfliches darin. Es bedeutete den Sieg des Alten, der nicht wollte, daß die Jungen im Dorf Teil des Waldes wurden. Nun verstand Oleg in aller Deutlichkeit, wie und warum der Alte so dachte, seine Worte bekamen einen Sinn, den man nur hier erfassen konnte.
Dann kam Oleg auf die Idee, die Tischplatte hochzuklappen, auf deren Innenseite sich ein Spiegel befand. Der Junge hatte sein Gesicht bisher nur in dem kleinen Teich gesehen und in einem kleinen Spiegelscherben, den Kristina wie ein Heiligtum hütete. In einen richtig großen Spiegel dagegen hatte er noch nie geschaut. Wie er sich jetzt aber darin betrachtete, wurde ihm plötzlich die Zweiteilung seiner Person bewußt, eine Zweiteilung, die nichts Widernatürliches besaß: Dort, hinter der geöffneten Tür, war er eben noch der einjährige Oleg gewesen, der nicht einmal seine Milch ausgetrunken hatte, hier aber stand er in der Uniform des Vaters vor dem Spiegel, auch wenn er dem Vater kaum ähnelte, denn seine Haut war vom Frost verfärbt, das Gesicht dunkelverwittert und von frühen Falten durchzogen, hervorgerufen durch ständigen Hunger und rauhes Klima. Dennoch war er herangewachsen und hierher zurückgekehrt, er hatte die Uniform des Vaters angelegt und war zum Besatzungsmitglied des Raumschiffs „Pol“ geworden.
Im Schreibtisch fand er das Notizbuch des Vaters, es war zur Hälfte unbeschrieben — mindestens hundert weiße leere Blätter, ein regelrechter Schatz für den Alten! Er würde den Kindern im Unterricht bestimmte Dinge darauf aufmalen können, so daß sie begriffen und eine Vorstellung von ihnen bekamen, denn sie sollten, wenn sie groß waren, unbedingt zum Schiff zurückkehren. Oleg fand auch ein paar farbige Stereobilder von verschiedenen Erdenstädten, die er gleichfalls einpackte. Dann gab es da noch Dinge, die Oleg unverständlich waren und die er vorerst nicht anrührte — der Rückweg zur Siedlung wäre ohnehin schwierig genug. Einen der Gegenstände nahm er aber doch mit, denn ihm wurde sofort klar, worum es sich handelte, und er begriff, daß Sergejew und Waitkus glücklich darüber sein würden. Waitkus hatte ihm diesen Gegenstand des öfteren auf feuchten Lehm gemalt und dabei stets ausgerufen: „Ich werde mir nie verzeihen, daß keiner von uns daran gedacht hat, den Blaster mitzunehmen!“ Worauf der Alte jedesmal erwiderte: „Du machst dir ganz umsonst Vorwürfe. Um den Blaster zu holen, hätte man zur Kommandobrücke zurück gemußt, dort aber herrschte bereits eine tödliche Strahlung.“ Wie sich nun herausstellte, befand sich die Waffe beim Vater im Schreibtisch.
Der Griff des Blasters lag fest in Olegs Hand. Um zu überprüfen, ob die Waffe geladen war, richtete er sie auf die Wand und drückte ab — ein Blitz schoß heraus und versengte sie. Oleg blinzelte geblendet, noch eine Minute danach tanzten Funken vor seinen Augen. Dann trat er mit dem Blaster in der Hand auf den Korridor hinaus und war jetzt mehr als nur Herr des Schiffes. Er hatte die Möglichkeit erhalten, künftig nicht mehr bloß als Bittsteller mit dem Wald zu reden: Bitte rühr uns nicht an, bitte tu uns nichts … Im Korridor blieb Oleg zögernd stehen. Er hätte gern noch einen Blick in die Steuerzentrale oder in die Funkkabine geworfen, doch es war wohl sinnvoller, zum Vorratslager zurückzukehren, weil Dick und Marjana, sollten sie bereits dort sein, sich gewiß Sorgen machten.
Oleg strebte eilig dem Lager zu, traf aber niemanden an.
Da werde ich die beiden wohl wecken müssen, sagte er sich. Auch wollte er, selbst wenn er es, sich nicht eingestand, gern in der Uniform eines Raumfliegers vor ihnen aufkreuzen, wollte ihnen zurufen: „Ihr schlaft und schlaft, dabei wird es Zeit für uns, zu den Sternen aufzubrechen …“
Oleg löschte die Fackel auch im erhellten Korridor nicht. Diesmal durchquerte er den Hangar auf schnellstem Weg, und die Strecke kam ihm nun viel kürzer vor als gestern, denn er hatte sich bereits an das Schiff gewöhnt.
Tageslicht schlug ihm entgegen — die Außenluke war geöffnet. Sie hatten sie zu schließen vergessen. Freilich war das bedeutungslos: In diesen Schneehöhen gab es schwerlich Tiere, was hätten sie hier zu suchen?
Oleg blinzelte etwa eine Minute ins Licht, bis sich seine Augen an die Sonne gewöhnt hatten. Sie stand hoch am Himmel, die Nacht war längst vorüber. Oleg öffnete die Augen wieder und war furchtbar erschrocken: Keinerlei Zeichen von Dick und Marjana! Der Schnee, über Nacht gefallen, hatte sämtliche Spuren vom Vortag verweht und war völlig unberührt.
„Heeh!!“ rief er leise. Die Stille ringsum war so grenzenlos, daß man sich scheute, sie zu stören. Gleich darauf bemerkte Oleg, daß etwa zwanzig Meter vom Schiff entfernt etwas Weißes in Bewegung geriet. Auf einem kleinen, flachen Schneehügel entdeckte er ein Tier, das im Schnee kaum auszumachen war, ein Tier, wie er es noch nie gesehen hatte. Es besaß Ähnlichkeit mit einer Eidechse, war aber von einem flauschigen Fell bedeckt und etwa vier Meter lang. Vorsichtig, um seine Beute nicht aufzuschrecken, machte es sich an dem Hügel zu schaffen.
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