Ah, hier kommt der Skipper — ich habe mich daran gewöhnt und kann Leute sogar aus diesem Winkel erkennen —, jetzt schaut er zu uns rauf.“
„Ich habe den Eindruck, dieses Teleskop vermittelt Ihnen eine Art Machtgefühl!“
„Aber ja doch. Ich bin der einzige, der alles weiß, was sich in Rama tut. Jedenfalls habe ich geglaubt, daß ich es weiß.“ Pieters Stimme klang anklagend, er warf Kirchoff einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Wenn es Sie glücklich macht, der Skipper hat gemerkt, daß er keine Zahnpasta mehr hat.“
Danach schlief das Gespräch ein. Schließlich aber sagte Pieter: „Ich wollte, Sie hätten die Wette angenommen… er braucht bloß fünfzig Meter weit zu gehen… jetzt sieht er sie… Auftrag ausgeführt.“
„Danke, Pieter. Sehr gute Leistung. Und jetzt können Sie sich wieder schlafen legen.“
„Was heißt hier schlafen! Ich habe bis 4.00 Uhr Wache!“
„Tut mir sehr leid — aber Sie müssen geschlafen haben. Oder wie erklären Sie sich sonst, daß Sie all das geträumt haben?“
SPACE SURVEY HAUPTQUARTIER AN COMMANDER SS ENDEAVOUR.
PRIORITÄT AAA. GEHEIMSTUFE NUR FÜR KAPITÄN.
KEINE AUFZEICHNUNG PER DAUERRECORDER.
SPACEGUARD BERICHTET ULTRASCHNELLES RAUMFAHRZEUG OFFENBAR VOR ZEHN ODER ZWÖLF TAGEN VON MERKUR GESTARTET UM RAMA ABZUFANGEN. FALLS KEINE FLUGBAHNÄNDERUNG EINTREFFEN FÜR VOM DATUM 322 TAGE 15 STUNDEN BERECHNET. KANN NÖTIG WERDEN DASS SIE VORHER EVAKUIEREN. WEITERE ANWEISUNGEN FOLGEN. OBERKOMMANDO
Norton las die Nachricht ein halbes dutzendmal durch, um sich das Datum einzuprägen.
Es fiel in Rama schwer, das Zeitgefühl nicht zu verlieren; er mußte auf seine Kalenderuhr sehen, um herauszufinden, daß heute der Tag war. Damit blieb ihnen nur noch eine Woche… Die Nachricht war niederschmetternd, nicht nur wegen ihres Inhalts, sondern auch wegen der Implikationen. Die Hermianer hatten einen heimlichen Start vorgenommen — was an und für sich bereits ein Bruch der Weltraumgesetze war. Die Schlußfolgerung war eindeutig: ihr ›Raumfahrzeug‹ konnte nur eine Vernichtungsrakete sein.
Aber warum? Es war unvorstellbar — also beinahe unvorstellbar —, daß sie es riskieren würden, die Endeavour in Gefahr zu bringen, also würde er aller Wahrscheinlichkeit nach von den Hermianern gründlich gewarnt werden.
Im Notfall konnte er innerhalb weniger Stunden abdocken. Allerdings würde er dies nur unter schärfstem Protest und auf direkten Befehl des Oberkommandierenden hin tun.
Langsam und tief in Gedanken versunken ging er zu dem improvisierten Lebenserhaltungsgerät hinüber und ließ die Nachricht in eine Elektrosan-Toilette fallen. Der leuchtende Laserblitz, den er durch den Spalt unter dem Sitzdeckel sehen konnte, verriet ihm, daß den Sicherheitsbestimmungen Genüge geschehen war. Es ist doch zu blöd, sagte er sich, daß man nicht alle Probleme so rasch und so hygienisch aus der Welt schaffen kann.
Die Rakete war noch fünf Millionen Kilometer weit entfernt, als der Schein ihrer Plasma- Bremsdüsen im Hauptteleskop der Endeavour deutlich sichtbar wurde. Inzwischen war das Geheimnis publik geworden, und Norton hatte widerwillig die zweite und möglicherweise letzte Evakuierung aus Rama befohlen; doch er beabsichtigte nicht eher abzudocken, bis ihm die Ereignisse keine andere Wahl ließen.
Als das Bremsmanöver beendet war, befand sich der unwillkommene Gast vom Merkur nur noch fünfzig Kilometer von Rama entfernt und führte offensichtlich mittels seiner Fernsehkameras eine genaue Überprüfung durch.
Man konnte diese Kameras genau erkennen — eine am Bug und eine am Heck, ebenso mehrere kleine Rundstrahlantennen und eine große Richtantenne, die beständig auf den fernen Planeten Merkur gerichtet war. Norton fragte sich, was für Anordnungen wohl über diesen Leitstrahl ankommen und was für Informationen zurücklaufen mochten.
Aber eigentlich konnten die Hermianer ja gar nichts herausbringen, was sie nicht sowieso schon wußten; sämtliche Entdeckungen, die die Endeavour gemacht hatte, waren im ganzen Sonnensystem verbreitet worden. Dieses Raumfahrzeug — es hatte sämtliche Geschwindigkeitsrekorde gebrochen, um hierherzugelangen — konnte nur der verlängerte Arm sein für die Absichten und Pläne seiner Konstrukteure, ein Instrument, das ihren Zielen diente. Und diese Ziele würde man bald kennen, denn in drei Stunden beabsichtigte der Botschafter des Merkur, die Generalversammlung der United Planets zu informieren.
Offiziell gab es die Rakete noch gar nicht.
Sie hatte keine Erkennungszeichen und sendete nicht auf Standardfrequenz. Dies war ein schwerer Bruch der Vereinbarungen, aber noch nicht einmal SPACEGUARD hatte bisher formell Protest erhoben. Alle warteten nervös und ungeduldig darauf, was die Leute vom Merkur weiter tun würden.
Drei Tage waren vergangen, seit die Existenz — und die Herkunft — der Rakete bekannt waren; doch die ganze Zeit hatten sich die Hermianer in ein hartnäckiges Schweigen gehüllt.
Sie waren Meister darin, wenn es ihren Zielen diente.
Einige Psychologen hatten die Behauptung aufgestellt, daß es nahezu unmöglich sei, die Mentalität von Menschen ganz zu verstehen, die auf dem Merkur geboren wurden. Die Hermianer waren für alle Zeit von der Erde durch deren dreimal höhere Schwerkraft verbannt; sie konnten vom Mond aus über diese schmale Schlucht auf den Planeten ihrer Vorfahren (ja zum Teil sogar ihrer Eltern) schauen, doch sie konnten ihn niemals besuchen. Darum behaupteten sie selbstverständlich, daß sie dies gar nicht wollten.
Sie gaben vor, den sanften Regen zu verachten, die wogenden Felder, die Seen und Meere, den blauen Himmel — Dinge, die sie überhaupt nur aus Aufzeichnungen kannten. Da ihr Planet von so hoher Sonnenenergie überflutet wurde, daß die Tagestemperatur oftmals sechshundert Grad erreichte, legten sie sich eine affektierte angeberische Hartgesottenheit zu, die ernsthafter Nachforschung keinen Augenblick lang standhielt. Tatsächlich neigten sie zu körperlicher Schwächlichkeit, da sie ja nur überleben konnten, wenn sie völlig gegen ihre Umgebung abgeschirmt waren. Ein Hermianer würde in einem Gebiet in Äquatornähe auf der Erde an einem heißen Tag sehr rasch außer Gefecht gesetzt werden, selbst wenn er die Schwerkraft vertragen könnte.
Aber wo es wirklich darauf ankam, waren die Hermianer unglaublich zäh. Der psychologische Druck, den dieser wild pulsierende Stern, die Sonne, in so großer Nähe auf sie ausübte, die technischen Probleme der Unterwerfung dieses so abweisenden Planeten, dem man sämtliche Lebensnotwendigkeiten entreißen mußte — all dies zusammen hatte zu einer spartanischen und in vielerlei Hinsicht höchst bewundernswerten Kultur geführt. Auf die Hermianer konnte man sich verlassen: wenn sie etwas versprachen, dann hielten sie das auch ein — die Rechnung, die sie dafür präsentierten, konnte allerdings beachtlich sein. Einer ihrer Lieblingsscherze sagte, daß sie die Sonne, falls diese sich je in eine Nova zu verwandeln drohte, gern unter Kontrolle bringen würden — vorausgesetzt, die vertraglichen Summen dafür wären garantiert.
Ein anderer Witz, der seinen Ursprung nicht auf dem Merkur hatte, lautete, daß jedes Kind, das auch nur das kleinste Anzeichen von Interesse an Kunst, Philosophie oder theoretischer Mathematik erkennen ließ, sofort wieder in die hydroponischen Kulturen zurückgesteckt würde. Soweit es sich um Kriminelle und Psychopathen handelte, war dies leider kein Witz.
Kriminalität war ein Luxus, den unter anderen sich der Merkur nicht erlauben konnte.
Commander Norton hatte den Merkur einmal besucht, war ungeheuer beeindruckt gewesen — wie die meisten Besucher — und hatte dort viele Freunde gewonnen. Er hatte sich in Port Luzifer in ein Mädchen verliebt und sogar daran gedacht, einen dreijährigen Ehevertrag zu unterzeichnen, doch die Eltern mißbilligten eine Verbindung mit einem Mann, der von außerhalb der Venusbahn stammte. Nun, auch das hatte nichts weiter ausgemacht… „Tripel-A-Nachricht von der Erde, Skipper“, meldete sich die Brücke. „Vokal und Begleittext.
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