Jetzt und hier auf der Mittelachse von Rama konnte er Wunder beobachten, die noch die wildesten Fantasien seiner Jugendjahre weit übertrafen. Vor ihm lag eine ganze Welt ausgebreitet — sicher, es war nur eine kleine Welt, aber ein Mensch konnte sein ganzes Leben damit verbringen, viertausend Quadratkilometer zu erforschen, auch wenn sie tot waren.
Doch nun war das Leben mit all seinen unendlichen Möglichkeiten nach Rama gekommen, und wenn die biologischen Roboter keine Lebewesen sein sollten, so waren sie doch zumindest eine sehr gute Imitation von Lebewesen.
Niemand wußte, wer den Begriff ›Biot‹ erfunden hatte; er schien plötzlich allgemein gebräuchlich geworden zu sein, in einer Art von gemeinsamer spontaner Wortschöpfung. Von seinem günstigen Aussichtspunkt an der Nabe begann der Chef-Bioten-Wachtposten Pieter — wie er glaubte — allmählich bestimmte Züge im Verhaltensmuster der Bioten zu begreifen.
Die Spinnen waren freibewegliche Sensoren, die ihre Sehfähigkeit — möglicherweise auch die Tastfähigkeit — einsetzten, um den gesamten Innenraum Ramas zu untersuchen. Zuzeiten waren Hunderte von ihnen mit hoher Geschwindigkeit herumgehuscht, doch kaum zwei Tage später waren sie verschwunden; und jetzt war es ganz außergewöhnlich, wenn man auch nur eine von ihnen sah.
An ihre Stelle war eine ganze Menagerie weit eindrucksvollerer Wesen getreten — es war keine leichte Aufgabe gewesen, sich Namen für sie auszudenken. Da gab es die Fensterputzer mit ihren großen Polsterfüßen, die offenbar die sechs künstlichen Sonnen Ramas der ganzen Länge nach polierten. Ihre riesigen Schatten, die genau auf dem Durchmesser dieser Welt auf die andere Seite fielen, verursachten dort manchmal kurzdauernde Eklipsen.
Der Krebs, der die Libelle demontiert hatte, schien ein Straßenkehrer zu sein. Eine Relaiskette identischer Geschöpfe war in Camp Alpha erschienen und hatte alle Abfälle fortgebracht, die man säuberlich am Lagerrand gestapelt hatte; sie hätten auch alles übrige weggeschleppt, wenn ihnen nicht Norton und Mercer tapferen Widerstand geleistet hätten.
Die Begegnung war beunruhigend, aber kurz gewesen; danach hatte es den Anschein, als begriffen die Straßenkehrer, was sie mitnehmen durften und was nicht, und kehrten in regelmäßigen Abständen zurück, um zu sehen, ob ihre Dienste erwünscht waren. Ein äußerst bequemes Arrangement, das auf einen hohen Intelligenzgrad schließen ließ — entweder bei den Straßenkehrern selbst oder in einer irgendwo gelegenen Kontrollzentrale.
Die Müllabfuhr in Rama funktionierte nach einem sehr einfachen Prinzip: alles wurde ins Meer gekippt, wo es aller Wahrscheinlichkeit nach zu Strukturen aufgestapelt wurde, die erneut Verwendung finden konnten. Die Müllabfuhr wurde mit rapider Schnelligkeit abgewikkelt; die Resolution war zum großen Ärger von Ruby Barnes über Nacht verschwunden. Norton tröstete sie mit dem Hinweis, daß das Floß seine Aufgabe großartig erfüllt habe und daß er sowieso niemandem gestattet haben würde, es wieder zu benutzen. Die Haie konnten ja möglicherweise weniger Unterscheidungsvermögen besitzen als die Straßenkehrer.
Kein Astronom, der einen bisher unbekannten Planeten entdeckt, hätte glücklicher sein können als Pieter Rousseau, als er einen neuen Biotentyp ausmachte und durch das Teleskop ein gutes Foto von ihm schießen konnte.
Unglücklicherweise schienen alle interessanteren Spezies drüben am Südpol versammelt zu sein, wo sie geheimnisvolle Funktionen an den Hörnern erfüllten. Ein Wesen, das wie ein Tausendfüßler aussah, der Saugnäpfe an den Beinen hat, konnte hin und wieder am Großen Horn selbst gesichtet werden. An den niedrigeren Gipfeln hatte Pieter kurz einen Blick auf eine stämmige Kreatur erhaschen können, die man eventuell als eine Kreuzung zwischen einem Flußpferd und einer Planierraupe hätte bezeichnen mögen. Und es gab sogar eine doppelhälsige Giraffe, die offenbar die Rolle eines mobilen Krans spielte.
Allem Anschein nach erforderte Rama wie jedes Raumschiff nach seiner ungeheuerlich langen Reise Kontrollen, Tests und Reparaturen, und die Besatzung war bereits heftig am Werk. Wann würden die Passagiere in Erscheinung treten?
Aber die Klassifizierung von Bioten war nicht Pieters Hauptaufgabe. Er hatte die zwei oder drei Explorationstrupps zu überwachen, die ständig unterwegs waren. Er sollte darauf achten, daß sie nicht in Schwierigkeiten gerieten, er mußte sie warnen, wenn sich ihnen irgend etwas näherte. Alle sechs Stunden wurde er von jemandem abgelöst, der gerade nicht gebraucht wurde, aber mehr als einmal war er ununterbrochen zwölf Stunden lang auf seinem Posten gewesen. Das hatte dazu geführt, daß er nun die Geographie Ramas besser kannte als irgendein anderer Mensch. Sie war ihm so vertraut wie die Colorado-Berge seiner Jugend.
Als Jerry Kirchoff durch die Luftschleuse Alpha kam, wußte Pieter sofort, daß etwas Außergewöhnliches im Gange sein mußte.
Personalaustausch wurde nie während der Schlafperiode durchgeführt, und jetzt war es nach Mitternacht (Schiffszeit). Dann fiel Pieter ein, wie knapp an Leuten sie waren, und eine viel bestürzendere Unregelmäßigkeit wurde ihm schockartig bewußt.
„Jerry — wer hat Befehl im Schiff?“
„Ich“, antwortete der OvD kalt und klappte seinen Helm auf.
„Sie denken doch nicht etwa, daß ich die Brücke verlasse, während ich Wache habe, oder?“
Er langte in seine Allzwecktasche und holte eine kleine Dose hervor, die noch das Etikett trug: KONZENTRIERTER ORANGENSAFT: ERGIBT FÜNF LITER.
„Sie können doch so was prima, Pieter. Der Skipper wartet darauf.“
Pieter nahm die Dose wiegend in die Hand und sagte: „Ich hoffe, Sie haben genügend Masse hineingesteckt. Manchmal bleiben sie auf der ersten Terrasse stecken.“
„Nun, Sie sind doch der Fachmann.“
Und das stimmte nur zu genau. Die Beobachter an der Nabe hatten ausreichend Gelegenheit gehabt zu üben, wie man kleinere Gegenstände hinunterschickte, die vergessen worden waren oder dringend benötigt wurden. Der Trick bestand darin, sie sicher über den Bereich der Schwerelosigkeit hinauszubefördern und darauf zu achten, daß danach, während der acht Kilometer langen Rollstrecke abwärts, der Corioliseffekt sie nicht zu weit von dem Lager, für das sie bestimmt waren, abtrieb.
Pieter suchte festen Halt, packte die Dose und schleuderte sie den Abhang hinunter. Er zielte nicht direkt auf Camp Alpha, sondern fast in einem Winkel von dreißig Grad daneben.
Beinahe sofort nahm der Luftwiderstand der Dose die Anfangsgeschwindigkeit, doch dann begann die Pseudoschwerkraft Ramas zu wirken, und sie bewegte sich mit konstanter Geschwindigkeit abwärts. Einmal prallte sie am Fuß der Leiter auf und vollführte einen Zeitlupensprung über die erste Terrasse hinaus.
„Jetzt isses okay“, sagte Pieter. „Wollen Sie wetten?“
„Nein“, lautete die prompte Antwort. „Sie kennen sich zu gut aus.“
„Das ist aber unsportlich von Ihnen. Aber ich sage Ihnen jetzt schon — die Büchse wird innerhalb von dreihundert Metern von Camp Alpha liegenbleiben.“
„Das scheint mir nicht sehr nahe.“
„Versuchen Sie’s doch gelegentlich mal. Ich hab’ mal gesehen, wie Joe ein paar Kilometer vorbeigeschossen hat.“
Die Dose hüpfte jetzt nicht mehr; die Schwerkraft hatte soweit zugenommen, daß sie nun an der gebogenen Innenfläche der Nordkappe zu kleben schien. Als sie die zweite Terrasse erreicht hatte, rollte sie mit etwa zwanzig bis dreißig Stundenkilometern dahin und hatte damit die höchste Geschwindigkeit erreicht, die die Reibung zulassen würde.
„Und jetzt müssen wir warten“, sagte Pieter und setzte sich wieder an sein Teleskop, um die ›Luftpostbombe‹ im Auge zu behalten.
„In zehn Minuten wird sie dort sein.
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