Unter glücklicheren Umständen hätte sie es wohl sofort erkannt, denn es handelt sich um die einzige ramanische Struktur, die tatsächlich auch auf der Erde vorkommt — wenn auch nur bei einer Handvoll von Meerestieren.
Der weitaus größte Teil der Spinne ist einfach eine Batterie, ziemlich ähnlich denen, die man in Elektrozellen und Rochen findet. Doch in unserem Fall dient diese Batterie anscheinend nicht der Verteidigung. Sie ist die Energiequelle dieses Geschöpfs. Und darum besitzt es keine Vorrichtungen zur Nahrungs- und Sauerstoffaufnahme; es braucht derartige primitive Einrichtungen nicht. Ganz nebenbei würde dies bedeuten, daß sich dieses Wesen in einem Vakuum vollkommen zu Hause fühlen würde… Wir haben also ein Geschöpf, das seinen Aufgaben und Zielen nach nichts weiter ist als ein mobiles Auge. Es verfügt über keine Greiforgane, und diese Tentakeln sind viel zu schwächlich.
Wenn man mir eine genaue Beschreibung gegeben hätte, würde ich es einfach als Erkundungsinstrument bezeichnet haben.
Sein Verhalten trifft zweifellos auf diese Bezeichnung zu. Diese Spinnen tun nämlich nichts anderes, als herumzulaufen und Dinge zu betrachten. Das ist alles, was sie tun können… Die anderen Tiere dagegen sind verschieden.
Der Krebs, der Seestern, die Haie — alle in Ermangelung besserer Bezeichnungen — vermögen offenbar ihre Umgebung zu manipulieren und scheinen auf die verschiedenartigsten Funktionen spezialisiert zu sein. Ich nehme an, daß auch sie mit Elektrobatterien arbeiten, da sie wie die Spinne anscheinend keine Mundöffnungen besitzen.
Ich bin sicher, daß Sie die biologischen Probleme richtig erkennen, die sich aus alldem ergeben.
Konnten sich derartige Geschöpfe auf natürlichem Wege entwickeln? Ich glaube dies wirklich nicht. Sie scheinen entworfen zu sein wie Maschinen, die eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen haben. Wenn ich sie beschreiben müßte, würde ich sagen, es sind Roboter — biologische Roboter —, etwas, wofür es auf der Erde keine Entsprechung gibt.
Wenn Rama ein Raumschiff ist, dann sind sie vielleicht Mitglieder der Besatzung. Aber wie sie geboren werden — oder geschaffen —, das kann ich Ihnen nicht sagen. Doch ich vermute, daß die Antwort drüben in New York liegt.
Wenn Commander Norton und seine Leute lange genug warten können, werden sie vielleicht in zunehmendem Maß auf immer kompliziertere Wesen mit unvorhersehbarem Verhalten stoßen. Irgendwann dürften sie dann vielleicht auch auf die Ramaner selbst stoßen — die wirklichen Schöpfer jener Welt. Und, meine Herren, wenn das eintritt, dann wird es überhaupt keinen Zweifel mehr geben…“
Commander Norton schlief fest und selig, als ihn sein persönlicher Nachrichtenoffizier aus glücklichen Träumen riß: Er machte mit seiner Familie auf dem Mars Ferien, flog gerade an dem majestätischen schneebedeckten Gipfel von Nyx Olympica vorbei, dem gewaltigsten Vulkan des Sonnensystems. Sein kleiner Sohn Billy hatte ihm gerade etwas zu erzählen begonnen. Jetzt würde er nie mehr erfahren, was es gewesen war.
Der Traum verblaßte; die Wirklichkeit drängte sich ihm in Form der Stimme seines OvD auf, dort oben in seinem Schiff.
„Tut mir leid, Sie aufzuwecken, Skipper“, sagte Kapitänleutnant Kirchoff. „Tripel-A-Priorität vom Hauptquartier.“
„Lesen Sie’s mir vor“, antwortete Norton verschlafen.
„Kann ich nicht. Ist in Kode — nur für den Kommandanten.“
Norton war sofort hellwach. Nur dreimal während seiner ganzen Laufbahn hatte er eine solche Nachricht erhalten, und jedesmal hatte sie Ärger bedeutet. „Verflucht!“ knirschte er.
„Was machen wir jetzt?“
Sein OvD machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten. Sie erfaßten das Problem beide vollkommen; es war ein Problem, das in der Schiffsordnung nicht berücksichtigt war. Im Normalfall war der Kommandant eines Raumschiffs nie mehr als ein paar Minuten von der Kommandozentrale entfernt, und dort lag das Buch mit den Kodeschlüsseln in einem nur ihm zugänglichen Safe. Wenn Norton jetzt loszog, würde er vielleicht in vier bis fünf Stunden — völlig erschöpft — sein Schiff erreichen.
Aber so durfte man eine AAA-Priorität nicht erledigen.
„Jerry“, sagte Norton schließlich. „Wer ist in der Kommunikationszentrale?“
„Keiner außer mir. Ich hab’ Sie selbst angerufen.“
„Ist der Aufzeichner ausgeschaltet?“
„Ja. Merkwürdige Sache. Völlig gegen die Vorschriften.“
Norton lächelte vor sich hin. Jerry war der beste Diensthabende Offizier, mit dem er je zusammengearbeitet hatte. Der Junge dachte immer an alles.
„Okay. Sie wissen, wo mein Schlüssel ist.
Rufen Sie zurück.“
Während der nächsten zehn Minuten wartete er so geduldig, wie es ihm nur möglich war, und bemühte sich — ziemlich erfolglos —, an andere Probleme zu denken. Er verschwendete nur höchst ungern geistige Energie, und es war ja ziemlich unwahrscheinlich, daß er erraten könnte, was die eingetroffene Nachricht enthalten würde. Den Inhalt würde er sowieso früh genug erfahren. Dann war der richtige Zeitpunkt gekommen, sich Sorgen zu machen.
Als der OvD zurückrief, stand er offenbar unter beträchtlichem Streß.
„Es ist gar nicht wirklich dringend, Skipper, und eine Stunde mehr macht wirklich keinen Unterschied. Aber ich möchte lieber nicht über Funk gehen. Ich schicke Ihnen die Nachricht durch Boten runter.“
„Aber warum denn — oh, na gut —, ich verlaß mich auf Ihr Urteilsvermögen. Wer bringt es durch die Luftschleusen?“
„Ich komme selbst. Ich melde mich, wenn ich an der Nabe bin.“
„Und damit ist Laura OvD.“
„Nur für eine Stunde, äußerstenfalls. Ich gehe gleich danach wieder zum Schiff zurück.“
Ein Stabsarzt verfügte nicht über die Spezialausbildung, die zur Führung eines Raumschiffs nötig war, ebensowenig wie ein Kommandant in der Lage wäre, eine Operation durchzuführen. In Notfällen hatte man manchmal beide Aufgaben mit Erfolg vertauscht; aber es war nicht ratsam. Nun, eine Vorschrift war heute nacht ja bereits verletzt worden… „Für das Protokoll haben Sie das Schiff keinen Moment verlassen. Haben Sie Laura geweckt?“
„Ja. Sie ist entzückt über die Gelegenheit.“
„Was für ein Glück, daß Ärzte es gewohnt sind, Geheimnisse für sich zu behalten. Ach — übrigens —, haben Sie daran gedacht, die Bestätigung zu senden?“
„Selbstverständlich. In Ihrem Name“.“
„Gut. Ich warte also.“
Aber jetzt war es Norton ganz unmöglich geworden, sich von ängstlichen Erwartungen freizuhalten.
Nicht wirklich dringend — aber ich möchte lieber nicht über Funk gehen… Eins war klar: in dieser Nacht würde der Commander nicht mehr sehr viel Schlaf finden.
36. KAPITEL
DER BIOTEN-WACHTPOSTEN
Sergeant Pieter Rousseau wußte genau, warum er sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet hatte; er konnte hier auf verschiedene Weise einen Kindheitstraum verwirklichen. Teleskope hatten ihn bereits fasziniert, als er gerade erst sechs oder sieben Jahre alt war, und in seiner Jugend hatte er viel Zeit darauf verwendet, Linsen aller möglichen Gestalt und Größe zu sammeln. Er hatte sie in Pappröhren befestigt und sich Instrumente von immer höherer Potenz gebaut, bis er mit dem Mond und den Planeten, den näher gelegenen Raumstationen und der gesamten Umgebung im Umkreis von dreißig Kilometern um sein Elternhaus vertraut war.
Seinen Geburtsort hatte er sich dafür gut gewählt: er lag in den Bergen Colorados, und die Aussicht war in fast alle Richtungen lohnend und unerschöpflich. Er hatte in völliger Sicherheit stundenlang die Gipfel erforscht, die in jedem Jahr ihren Zoll an unvorsichtigen Bergsteigern forderten. Und wenn er vieles gesehen hatte, so hatte er sich doch noch viel mehr in der Fantasie ausgemalt. Er hatte sich immer gern vorgestellt, daß hinter jedem Felskamm jenseits der Reichweite seines Teleskops Zauberkönigreiche voller wunderbarer Geschöpfe lägen. So hatte er es jahrelang vermieden, die Orte zu besuchen, die ihm seine Linsen nahe rückten, weil er wußte, die Wirklichkeit würde sich mit seinem Traum nicht messen können.
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