„Meine Kleinen…“— murmelte er und sank in süßen kraftspendenden Schlaf.
Nach einem Monat konnte die Käseglocke die Kugeln nicht mehr fassen. Nach einem weiteren Monat verlor er die Übersicht, er konnte sie nicht mehr zählen. Kaum hatten die schwarzen Kerne die üblichen Ausmaße erreicht, da begannen den Kugeln schon die Pole zu schwellen. Nur einmal gelang es ihm, im Augenblick der Teilung wach zu sein, die immer nachts erfolgte. Der Klang, der unter der Käseglocke hervordrang, betäubte ihn für lange Minuten, aber in noch größere Verblüffung versetzte ihn ein Aufblitzen, das einen Moment lang das ganze Zimmer aus der Dunkelheit auftauchen ließ, wie im Strahl eines winzigen Blitzes. Von alldem, was vorging, verstand der Beobachter nichts, aber durch das Bett hindurch spürte er, daß einen Moment lang der Fußboden erbebte, und durch Mark und Bein drang das Bewußtsein, daß dieses wuchernde Kleinzeug etwas unendlich Gewaltiges sei. Ein ähnliches Gefühl kam auf, wie angesichts eines überwältigenden Naturereignisses, so, als öffnete sich für eine Sekunde der Abgrund eines Wasserfalls, oder als ließe sich ein Erdbeben spüren; in diesem klirrenden momentanen Schnappen, dessen Echo die Hauswände noch einzusaugen schienen, hatte sich einen Sekundenbruchteil lang eine Kraft aufgetan und wieder verschlossen, die mit nichts zu vergleichen war. Die Angst währte nur kurz — am Morgen hielt er sie für ein Traumgespinst. In der nächsten Nacht suchte er im Dunkeln zu wachen. Und zugleich mit der Welle der Erschütterung und dem dunklen Klang gewahrte er nun erstmals genau die zickzackförmige Strahlung, die das aufgequollene Ei entzweischnitt und so jäh verschwand, daß er nachher nicht wußte, ob er sich nicht etwa bloß getäuscht hatte.
Nicht einmal an den Schnee dieses Winters erinnerte er sich, so selten ging er aus, nur den kleinen Kaufladen hinter der Straßenbiegung mußte er doch manchmal aufsuchen. Im beginnenden Vorfrühling wimmelte das Zimmer von Kugeln, die er gar nicht alle einkleiden konnte: woher hätte er so viel Stanniol nehmen sollen? Überall trieben sie sich herum, mit den Füßen stupste er sie fortwährend, lautlos fielen sie vom Bücherregal, gerade auf den Fächern dort waren sie am besten zu sehen, durch das lange Liegen waren sie mit einer zarten Staubschicht überzuckert, die als feine matte Haut die Rundungen nachzeichnete.
Die stets neuen Abenteuer (er fischte Kugeln aus der Hafersuppe, aus der Milch, im Zuckersäckchen fand er welche, unsichtbar rollten sie aus den Gefäßen, wurden mit der Suppe gekocht), dieser Überfluß, der ihn umgab, begann ihn mit neuen Einfällen und mit leichter Unruhe zu erfüllen.
Der so unbändig anwachsende Schwarm kümmerte sich wenig um ihn. Er zitterte: irgendeine könnte in die Diele entwischen, und dann weiter, in den Garten, auf die Straße, wo Kinder sie finden könnten. Also stellte er ein ausreichend engmaschiges Drahtgitter vor die Schwelle, und mit der Zeit wurde das Ausgehen zu einer ganzen komplizierten Zeremonie: er durchstöberte der Reihe nach alle Taschen, schaute in den Hosenumschlägen nach, klopfte alles sicherheitshalber noch ein paarmal aus, öffnete und schloß die Tür nur langsam, damit die entstehende Zugluft nicht unversehens eine Kugel entführte, und je mehr es davon gab, um so stärker komplizierte sich alles.
Nur eine echte und große Unannehmlichkeit litt er durch dieses Zusammenleben voll vielfältiger Emotionen: es waren schon so viele Kugeln, daß sie sich fast unausgesetzt vermehrten, und der gewaltige klirrende Klang erscholl manchmal fünf— oder sechsmal in einer Stunde. Er weckte ihn nachts, daher begann er den Schlaf bei Tag nachzuholen, wenn Stille herrschte. Manchmal erfaßte ihn undeutliche Unruhe angesichts dieser Welle unerschütterlicher regelmäßiger Fortpflanzung, das Gehen wurde immer schwieriger, auf Schritt und Tritt entwichen unter den Sohlen hervor die unsichtbaren federnden Bällchen, verstreuten sich nach allen Seiten, und er erkannte, er werde demnächst in ihnen waten müssen wie in tiefem Wasser. Wovon sie lebten, wovon sie sich ernährten, — darüber dachte er nicht nach.
Trotz des kalten Vorfrühlings mit häufigen Frost— und Schneeschauern heizte er längst nicht mehr. Das Kugelgewimmel spendete seine gleichmäßige Wärme der Umgebung. Noch nie war es im Zimmer so warm, so heimelig gewesen wie jetzt, da der Staub von spaßigen Sprungspuren und Wälzspuren wimmelte, als hätten da vor kurzem junge Kätzchen gespielt.
Je mehr Kugeln da waren, um so leichter gaben sie ihre Gebräuche zu erkennen. Man hätte meinen können, daß sie einander nicht mochten oder jedenfalls allzu nahe Nachbarschaft von ihresgleichen nicht duldeten. Denn bei jeder Annäherung verblieb zwischen ihnen eine dünne Luftschicht, die sich selbst bei beträchtlicher Kraftanwendung nicht wegdrücken ließ. Das sah er am besten, wenn er zwei in Stanniol gewickelte einander näherte. Mit der Zeit begann er die Überfülle wegzuräumen: er warf sie in die Blechwanne, und dort lagen sie nun unter einem Staubfilm wie ein Haufen von grobkörnigem Froschlaich, nur dann und wann erschütterte sie Bewegung von innen her, wenn sich eines der durchsichtigen Eier in zwei Nachkommen teilte.
Man muß gestehen, er hatte oftmals die merkwürdigsten Anwandlungen; so kämpfte er zum Beispiel lang mit sich selbst, solches Gelüst verspürte er, eines seiner Pflegekinder zu verschlucken! Zuletzt nahm er eine unsichtbare Kugel in den Mund, und dabei ließ er es bewenden. Er drehte sie sacht mit der Zunge und fühlte auf Gaumen und Zahnfleisch die federnde Rundung, die ein klein wenig Wärme ausstrahlte. Am Tag nach diesem Ereignis entdeckte er auf der Zunge einen oberflächlichen Bluterguß, doch brachte er die beiden Tatsachen nicht in Verbindung. Es kam aber immer öfter vor, daß er mit den Kugeln zusammen schlief und dann nicht begriff, wieso die Bezüge von Polster und Decke zu zerfallen begannen, die doch bisher so gut gedient hatten. Als wären sie plötzlich mürbe geworden! Zuletzt riß das Bettlaken schlechtweg in Fetzen, es hatte mehr Löcher als Leinwand an sich, er aber begriff noch immer nichts.
Einmal weckte ihn in der Nacht ein brennender Schmerz am Bein. Bei Licht sah er dann ein paar rötliche Flecken auf der Haut der Wade. Er entdeckte immer mehr, sie sahen aus wie verquollene Brandwunden. Die unsichtbaren Kugeln hüpften überall auf dem Bettzeug umher, als er sich wieder zurechtlegte, um weiterzuschlafen. Und dieses Bild stimmte ihn argwöhnisch, — die Kerne der Kugeln flirrten wie Flöhe.
„Was denn, zum Teufel, tut ihr den Papi beißen?!“ flüsterte er vorwurfsvoll. Er blickte im Zimmer umher.
Der matte Widerschein der verstaubten Kugeln drang von überallher zu ihm: sie bedeckten den ganzen Schreibtisch, lagen auf dem Fußboden, in den Regalen, im Kochgeschirr, in den Töpfen, — selbst in der Tasse in einem Restchen Tee flimmerte etwas Verdächtiges. Unfaßbare Angst ließ ihm das Herz in Sekundenschnelle loshämmern. Mit schlotternden Händen klopfte er die Decke und Deckenkappe aus, schwenkte das ausgebreitete Kissen mit hoch erhobenen Händen, warf alle Kugeln auf den Fußboden, besah nochmals fürsorglich die fladenhaften Rötungen an den Waden, wickelte sich in die Decke und löschte das Licht. Das Zimmer hallte alle paar Minuten von jenem Klang: er ähnelte einem metallischen Fanfarenton, den ein plötzlich zuschnappender Deckel unterbricht.
* Ist das denn möglich? Ist das möglich? — dachte indessen er. „Ich schmeiß euch hinaus! Allesamt jag' ich euch fort auf die Straße! Marsch!“ — verkündete er plötzlich flüsternd, denn die Stimme drang nicht durch die ausgedörrte Kehle. Maßloser Kummer würgte ihn, preßte ihm Tränen aus den Augen.
„Undankbare Biester!“ — flüsterte er und lehnte sich an die Wand, und so, halb sitzend, halb liegend, schlief er ein.
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