»Es ist kein hoffnungsloser Fall«, sagte Haber. »Eine Sitzung wie diese macht auf mich einen verdammt entmutigenden Eindruck. Aber er hat eine Chance, eine echte Chance, aus diesem Netz der Wahnvorstellungen, in dem er gefangen ist, herauszufinden, dieser schrecklichen Angst vor dem Träumen. Das Problem ist, es handelt sich um ein komplexes Netz und einen recht intelligenten Verstand, der darin verstrickt ist; er wirkt nur allzu schnell neue Netze, in denen er sich selbst einfangen kann … Hätte man ihn doch nur vor zehn Jahren schon hergeschickt; als er noch unter zwanzig war; aber natürlich hatte der Wiederaufbau vor zehn Jahren noch kaum angefangen. Oder auch nur vor einem Jahr, bevor er begann, seine Realitätsorientierung mit Hilfe von Medikamenten zu zerstören. Aber er versucht es immer wieder; und vielleicht gelingt es ihm ja doch noch, eine vernünftige Realitätsanpassung zu erreichen.«
»Aber Sie sagten, er sei nicht psychotisch«, bemerkte die Lelache mit einem leicht zweifelnden Unterton.
»Korrekt. Ich sagte geistesgestört. Wenn er zusammenbricht, dann wird er natürlich vollkommen zusammenbrechen, vermutlich in Richtung katatonische Schizophrenie. Eine geistesgestörte Person ist nicht weniger anfällig für eine Psychose als eine normale.« Er konnte nicht mehr sprechen, die Worte verdorrten ihm auf der Zunge und verwandelten sich in sinnlose trockene Hülsen. Ihm schien, als würde er schon seit Stunden eine wahre Sturzflut sinnloser Worte ausspucken und hätte keinerlei Kontrolle mehr darüber. Glücklicherweise hatte Miss Lelache offenbar auch genug davon; sie schepperte, klirrte, schüttelte ihm die Hand, ging.
Haber ging zuerst zu dem Tonbandgerät, das in einem Wandpaneel hinter der Couch verborgen war und mit dem er sämtliche Therapiesitzungen aufzeichnete: Rekorder ohne Warnsignal waren ein spezielles Privileg von Psychotherapeuten und dem Geheimdienst. Er löschte die Aufzeichnung der vergangenen Stunde.
Er setzte sich auf den Sessel hinter dem großen Schreibtisch aus Eichenholz, machte die unterste Schublade auf, holte eine Flasche und ein Glas heraus und schenkte sich eine kräftige Dosis Bourbon ein. Großer Gott, vor einer halben Stunde hatte es keinen Bourbon gegeben — seit zwanzig Jahren nicht mehr! Getreide war, da es sieben Milliarden Mäuler zu stopfen galt, viel zu kostbar gewesen, um Alkohol daraus zu brennen. Es gab nichts anderes als Pseudobier oder (für einen Arzt) absoluten Alkohol; das war die Flasche in seinem Schreibtisch noch vor einer Stunde gewesen.
Er trank die Hälfte der Dosis in einem Schluck, dann hielt er inne. Er sah zum Fenster. Nach einer Weile stand er auf, ging zum Fenster und ließ den Blick über die Dächer und Bäume schweifen. Einhunderttausend Seelen. Der Abend senkte sich über den stillen Fluß und ließ ihn verschwinden, aber die Berge ragten gewaltig und deutlich und fern im schrägen Sonnenschein der Höhen.
»Auf eine bessere Welt!« sagte Dr. Haber, prostete seiner Schöpfung mit dem Glas zu und trank den Whisky mit einem weiteren genüßlichen, lang anhaltenden Schluck leer.
Vielleicht müssen wir lernen … daß unsere Aufgabe erst anfängt und wir auch nicht den Hauch einer Hilfe bekommen, außer der Hilfe der unaussprechlichen, unvorstellbaren Zeit. Vielleicht müssen wir lernen, daß das ewige Rad von Tod und Geburt, dem wir nicht entrinnen können, unsere eigene Schöpfung, selbstgemacht ist; — daß die Kräfte, die Welten vereinen, die Irrtümer der Vergangenheit sind; — daß das ewige Leid die ewige Gier unstillbaren Verlangens ist; — und daß die erloschenen Sonnen nur durch die unauslöschlichen Leidenschaften vergangener Leben neu entzündet werden können.
Lafcadio Hearn , Out of the East
George Orrs Apartment lag im Obergeschoß eines alten Holzhauses ein paar Blocks den Hügel hinauf in der Corbett Avenue, einem schäbigen Teil der Stadt, wo die meisten Häuser schon hundert Jahre alt oder älter waren. Es hatte drei große Zimmer, ein Bad samt tiefer Wanne auf Löwenpfoten und einen Ausblick über die Dächer hinweg bis zum Fluß, wo Schiffe, Vergnügungsdampfer, Flöße, Möwen und große, kreisende Taubenschwärme dahinzogen.
Er erinnerte sich natürlich noch deutlich an sein anderes Apartment, das 2,5 Ч 3,5 Meter große Zimmer mit ausziehbarem Herd, Luftmatratze und gemeinschaftlichem Etagenklosett am Ende des langen Linoleumkorridors im achtzehnten Stock des Wohnturms Corbett Condominium, der nie gebaut worden war.
Er stieg in der Whiteaker Street aus der Straßenbahn und ging den Hügel und die breite, dunkle Treppe hinauf; er trat ein, ließ die Aktentasche auf den Boden und sich selbst auf das Bett fallen und verlor die Beherrschung. Er war ängstlich, erbost, erschöpft, fassungslos. »Ich muß etwas tun, ich muß etwas tun«, sagte er sich immer wieder panisch, aber er wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte nie gewußt, was er tun sollte. Er hatte stets nur getan, was getan werden mußte, das Nächstliegende, ohne Fragen zu stellen, ohne sich zu etwas zu zwingen, ohne sich Gedanken zu machen. Aber diese traumwandlerische Sicherheit hatte ihn verlassen, als er anfing, Medikamente zu nehmen, und inzwischen war er vom rechten Weg abgekommen. Er sollte handeln, er mußte handeln. Er durfte sich nicht mehr von Haber als Werkzeug benutzen lassen. Er mußte sein Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Er breitete die Hände aus und betrachtete sie, dann vergrub er das Gesicht darin; es war naß von Tränen. Oh, verflucht, verflucht, dachte er verbittert, was bin ich für ein Mann? Tränen in meinem Bart? Kein Wunder, daß Haber mich benutzt. Wie könnte er anders? Ich habe keine Kraft, ich habe keinen Charakter, ich bin das geborene Werkzeug. Ich habe kein Schicksal. Ich habe nur Träume. Und selbst die steuern jetzt andere Menschen.
Ich muß weg von Haber, dachte er und versuchte, nachdrücklich und entschlossen zu sein, aber noch während er es dachte, wußte er, daß er es nicht fertigbringen würde. Haber hatte ihn an der Angel, und das nicht nur mit einem Haken.
Eine so ungewöhnliche, in der Tat sogar einzigartige Traumkonfiguration, hatte Haber gesagt, sei von unschätzbarem Wert für die Forschung: Orrs Beitrag zur menschlichen Erkenntnis würde sich als immens erweisen. Orr glaubte, daß Haber das ernst meinte und wußte, wovon er sprach. Der wissenschaftliche Aspekt der ganzen Sache war für ihn zumindest tatsächlich der einzige Hoffnungsschimmer; er überlegte sich, daß die Wissenschaft dieser eigentümlichen und schrecklichen Gabe vielleicht noch etwas Gutes abringen, sie einer sinnvollen Verwendung zuführen und das ungeheure Leid, das sie gebracht hatte, wenigstens ein wenig kompensieren konnte.
Die Ermordung von sechs Milliarden nicht existierenden Menschen.
Orr hatte quälende Kopfschmerzen. Er ließ kaltes Wasser in das tiefe, gesprungene Waschbecken fließen und tauchte das Gesicht mehrmals hintereinander jeweils eine halbe Minute hinein, bis er rot, blind und naß wie ein neugeborenes Baby war.
Haber hatte das moralische Druckmittel gegen ihn, aber so richtig am Haken hatte er ihn mit dem Gesetz. Wenn Orr die Freiwillige Therapie beendete, würde er wahrscheinlich angeklagt werden, weil er sich auf illegale Weise Medikamente beschafft hatte, und sie würden ihn ins Gefängnis oder Irrenhaus stecken. Diese Möglichkeit schied aus. Und wenn er nicht aufhörte, sondern einfach nicht mehr zu den Sitzungen kam oder die Zusammenarbeit verweigerte, stand Haber eine wirkungsvolle Zwangsmaßnahme zur Verfügung: die Träume unterdrückenden Medikamente, die Orr nur mit Habers Rezept bekommen konnte. Jetzt erfüllte ihn der Gedanke daran, spontan zu träumen, ohne Kontrolle, mit noch größerem Unbehagen. In seinem momentanen Zustand, nachdem er darauf konditioniert worden war, jedesmal wirkungsvoll im Labor zu träumen, wollte er gar nicht daran denken, was alles passieren konnte, wenn er ohne die durch Hypnose auferlegten rationalen Schranken wirkungsvoll träumte. Das wäre ein Alptraum, ein schlimmerer Alptraum als der, den er gerade erst in Habers Büro erlebt hatte; davon war er felsenfest überzeugt und wagte nicht, es dazu kommen zu lassen. Er mußte die Traumblocker nehmen. Daran führte kein Weg vorbei, es ließ sich nicht vermeiden. Aber er konnte es nur, solange Haber ihn ließ, und aus diesem Grund mußte er mit Haber zusammenarbeiten. Er saß in der Klemme. Eine Ratte in der Falle. Er lief für einen verrückten Wissenschaftler durch ein Labyrinth, und ihm blieb kein Ausweg. Kein Ausweg, kein Ausweg.
Читать дальше