Der KÖI-Vorsitzende Toure Bomoko, ein Ulema der Zensunni, der übrigens zu den vierzehn Delegierten (›Die Vierzehn Weisen‹) gehörte, die niemals widerriefen, gab schließlich zu, daß die KÖI einige Fehler begangen hatte.
»Wir hätten nicht versuchen sollen, neue Symbole zu schaffen«, erklärte er. »Statt dessen hätten wir uns klarmachen sollen, daß der von uns getragene Versuch, Freiheiten der Selbstentscheidung in die Religionen hineinzubringen, Zündstoff enthielt. Obwohl wir tagtäglich mit der schrecklichen Instabilität konfrontiert werden, die allem Menschlichen anhaftet, erlauben wir unseren Religionen, weiter anzuwachsen und Beklemmungen zu verbreiten. Was repräsentiert dieser schwarze Schatten auf dem Pfad göttlicher Bestimmung? Eine Warnung vor der Tatsache, daß Institutionen und Symbole auch dann noch bestehenbleiben, wenn ihre Bedeutung längst verlorengegangen ist, weil es keine Summe allen erreichbaren Wissens gibt.«
Die verbitterte Zweideutigkeit in diesem ›Zugeständnis‹ entging Bomokos Kritikern natürlich nicht. Bald darauf sah er sich gezwungen, ins Exil zu gehen, wobei die Gilde sein Leben schützte. Berichten zufolge starb er auf Tupile, wo man ihn ehrte und liebte, und seine letzten Worte waren: »Die Religion soll für die Leute einen Ausweg bieten, die sich selbst sagen, daß sie nicht die Person sind, die sie gerne wären. Sie darf niemals zu einer Vereinigung von Selbstgerechten werden.«
Es ist anzunehmen, daß Bomoko die Prophezeiung, die in seinen Worten über die weiterbestehenden Institutionen lag, selbst erkannte. Neunzig Generationen später durchdrang die Kraft der O.-K.-Bibeln zusammen mit den Kommentaren das religiöse Universum.
Als Paul-Muad'dib mit der rechten Hand den Schrein, der den Schädel seines Vaters enthielt, umspannte, zitierte er einige Worte aus ›Bomokos Vermächtnis‹: »Du, der du uns besiegt hast, sage den Deinen, daß Babylon fiel und seine Schandtaten überwunden sind. Und laß dir sagen, daß die Menschheit sich noch immer des Gerichts erinnert, das über sie kam.«
Die Fremen verglichen Muad'dib mit Abu Zide, dessen Fregatte der Gilde trotzte und an einem Tag dorthin und zurück flog. Das Dorthin , in diesem Sinne gebraucht, ist eine Übersetzung aus der Fremen-Mythologie und beschreibt das Land des Ruh-Geistes, das Alam al-Mithal, den Ort, an dem alle Begrenzungen aufgehoben sind.
Die Parallele zwischen dem Alam al-Mithal und dem Kwisatz Haderach, den die Schwesternschaft durch ihr Zuchtprogramm zu produzieren erhoffte (›Der Abkürzer des Weges‹ oder ›der, der an zwei Orten gleichzeitig sein kann‹), ist unübersehbar. Aber beide Interpretationen kann man auch aus den Kommentaren herauslesen:
»Wenn Gesetz und Religion eins sind, schließt dein Selbst auch das Universum mit ein.«
Muad'dib sagte über sich selbst: »Ich bin ein Netz im Meer der Zeit, in der Lage, gleichzeitig in die Vergangenheit und in die Zukunft hinüberzugleiten. Ich bin eine bewegliche Membran, der kein Zeitstrom entgehen kann.«
Diese Aussage ist zurückführbar auf die 22. Kalima der O.-K.-Bibel, in der es heißt: »Ob ein Gedanke ausgesprochen wird oder nicht, ist unerheblich. Schon wenn man ihn denkt, wird er zu einem realen Geschehnis und verfügt über die Kraft der Wirklichkeit.«
Wenn wir uns Muad'dibs eigene Aussagen in den ›Säulen des Universums‹ ansehen, die seine Priester, die Qizara Tafwid, interpretierten, erkennen wir in vollem Umfang, wie stark er von der O.-K.-Bibel und den Zensunni-Fremen profitierte. Einige Beispiele:
Muad'dib sagt: »Gesetz und Pflicht sind eins; so sei es. Aber siehe auch die Grenzen, die sie dir setzen. Wenn du sie siehst, wirst du niemals selbstgerecht werden, sondern eindringen in das gemeinschaftliche Tau. Und du wirst immer etwas weniger sein als ein einzelnes Individuum.«
Die O.-K.-Bibel: lautet hier wortgetreu ebenso (Offenbarungen, 61).
Muad'dib: »Die Religion nimmt Anteil am Fortschrittsmythos, der uns vor den Schrecknissen einer ungewissen Zukunft abschirmt.«
Die KÖI-Kommentare: lauten hier ebenso (und das Azhar-Buch schreibt diese Bemerkung einem religiösen Schriftsteller des ersten Jahrhunderts, einem gewissen Neshou, zu).
Muad'dib: »Wenn ein Kind, eine nichtausgebildete Person, ein Unwissender oder ein Geistesschwacher Probleme heraufbeschwört, liegt das an einem Fehlverhalten der Autorität, die diese Schwierigkeiten nicht vorhergesehen und verhindert hat.«
Die O.-K.-Bibel: »Jedes Versagen kann zumindest teilweise einer Nachlässigkeit zugeschrieben werden, für die Gott keine mildernden Umstände wird gelten lassen.« (Das Azhar-Buch führt diesen Satz — in geringfügig anderer Form — der alten semitischen Tawra zu.)
Muad'dib: »Strecke die Hände aus und iß, was Gott dir geben wird. Füllt er deinen Teller auf, preise den Herrn.«
Die O.-K.-Bibel: verzeichnet hier eine Paraphrase grundsätzlich gleicher Bedeutung (die das Azhar-Buch der ersten islamischen Bewegung zuschreibt).
Muad'dib: »Güte ist der Beginn der Grausamkeit.«
Der Kitab al-Ibar der Fremen: »Ein gütiger Gott ist schwer zu ertragen. Gab Gott uns nicht die sengende Sonne (Al-Lat)? Gab er uns nicht die Mutter der Feuchtigkeit (Ehrwürdige Mutter)? Gab er uns nicht den Shaitan (Satan, Iblis)? Und war es nicht Shaitan, der uns die Schmerzhaftigkeit der Schnelligkeit gab?«
(Der Ursprung der letzten Frage geht auf ein altes Fremen-Sprichwort zurück, das da lautet: »Die Schnelligkeit ist eine Verführung Shaitans.« Dabei muß man berücksichtigen, daß der menschliche Körper auf Arrakis für jedes Hundert an Kalorien, die er während zu schneller Bewegungen verbraucht, sechs Unzen Schweiß verdampft. Das Fremenwort für Schweiß ist Bakka bzw. Tränen und wird aus einem ihrer Dialekte übersetzt als ›die Lebensessenz, die Shaitan deiner Seele entreißt‹.)
Koneywell bezeichnete das Erscheinen Muad'dibs als ›auf die religiösen Bedürfnisse abgestimmt‹, was eine fatale Fehlinterpretation darstellt, da sein Auftauchen zu dieser Zeit nicht geplant war. Muad'dib sagte darüber nichts anderes als: »Ich bin da; also …«
Auf jeden Fall ist es, wenn man Muad'dibs religiösen Einfluß verstehen will, wichtig, sich einen bestimmten Faktor vor Augen zu halten: Die Fremen waren ein Wüstenvolk, dessen gesamte Lebensweise auf das Verhältnis zu der Umgebung zurückzuführen war, in der sie existierten. Es ist keine Schwierigkeit, einen bestimmten Mystizismus zu pflegen, wenn man sich in jeder Sekunde einer neuen Art von Überlebenskampf ausgesetzt sieht. ›Du bist da; also …‹
Vor dem Hintergrund einer solchen Tradition wird das allgemeine Leiden akzeptierbar, wenn auch mit Schmerzen. Es ist wichtig zu wissen, daß die Rituale der Fremen das Aufkommen von Schuldgefühlen gar nicht erst zuließen. Das lag nicht etwa daran, daß Religion und Gesetz bei ihnen eine Einheit darstellten, sondern weil ihr Dasein oft schnelle Entscheidungen und brutale (oft tödliche) Urteile erforderte, die in einem weniger harten Land die Menschen mit schweren Komplexen belastet hätten.
Kein Wunder also, daß die Fremen sehr abergläubisch waren (sogar ohne die von der Missionaria Protectiva ausgestreuten Legenden). Was macht es aus, daß der flüsternde Sand ein Omen darstellt? Was macht es, wenn sie die Faust erhoben, wenn am Himmel der erste Mond erschien? Das Fleisch eines Mannes ist sein Eigentum, doch sein Wasser gehört dem Stamm — und das Geheimnis des Lebens ist kein lösbares Problem, sondern eine Wirklichkeit, die man erfahren muß. Und Omen sind dazu da, einen daran zu erinnern. Und weil man da war und die Religion besaß, war der Sieg unausweichlich.
Die Bene Gesserit hatten seit Jahrhunderten, bevor sie auf die Fremen stießen, gelehrt: »Wenn Religion und Politik eins sind und von einem lebenden Heiligen Mann (Baraka) geführt werden, kann sich ihnen nichts mehr entgegenstellen.«
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