»Er war ein schwacher Mensch«, stellte der General fest. »Er hat die feige Lösung gewählt. Er war also der erste von uns.« »Das klingt so, als erwarteten Sie, daß noch mehr von uns gehen werden«, sagte Sandra mit tränenerstickter Stimme. »Es passieren immer wieder Unglücke«, sagte der General. »Damit muß man rechnen. Sie werden natürlich Ihr möglichstes tun, damit ein akzeptabler Prozentsatz nicht überschritten wird.«
Lansing verzog das Gesicht. »Wenn Sie das für witzig halten, dann lassen Sie sich sagen, daß ich Ihren Humor abstoßend finde. Von uns werden Sie keine Lacher ernten.« »Und als nächstes werden Sie uns sicher erzählen, daß wir weitermachen müssen«, wandte sich Mary an den General. »Auch ohne den Pastor müssen wir weitermachen, nicht wahr?« »Natürlich«, sagte der General, »das ist unsere einzige Chance. Wenn wir hier nichts finden.«
»Und wenn wir etwas finden, dann behaupten Sie wieder, es sei eine Falle«, unterbrach ihn Sandra. »Dann trauen Sie sich nicht, es zu benutzen. Wir dürfen die Türen nicht benutzen, weil es Fallen sein könnten.«
»Bei den Türen bin ich mir ganz sicher«, erwiderte der General. »Ich möchte keinen von Ihnen dabei erwischen, wie er die Frage zu klären versucht.«
»Ich habe durch das Guckloch gespäht«, sagte Jürgens, »aber von dem Pastor war keine Spur zu entdecken.« »Was haben Sie denn erwartet?« fragte der General. »Dachten Sie, er steht da und macht uns eine lange Nase? In dem Augenblick, als er durch die Tür trat, riß er alle Brücken hinter sich ab. Er floh, so schnell er konnte. Er wollte sich überhaupt keine Möglichkeit zur Rückkehr offenhalten.« »Vielleicht war es für ihn das Beste«, sagte Mary. »Vielleicht ist er dort glücklich. Ich erinnere mich noch an seinen Gesichtsausdruck, als er zum erstenmal durch das Guckloch blickte. Damals wirkte er glücklich, und es war das einzige Mal, daß ich ihn glücklich erlebte. Auf dieser Welt gab es etwas, das ihn anzog. Uns alle, glaube ich, aber ihn besonders.«
»Ja, ich entsinne mich genau«, sagte Lansing. »Er war glücklich. Er hatte zum erstenmal die Mundwinkel nicht herabgezogen.« »Was schlagen Sie beide also vor?« fragte der General. »Sollen wir uns vor der Tür aufstellen und im Gänsemarsch hindurchspazieren?«
»Nein«, sagte Mary. »Für uns wäre das nicht die richtige Lösung, aber für den Pastor war sie angemessen. Es war sein einziger Ausweg, und ich hoffe, er ist dort glücklich.« »Glück sollte nicht unser einziges Ziel sein«, sagte der General. »Todessehnsucht aber auch nicht«, erwiderte Mary. »Das ist es nämlich, was Sie antreibt. Ich bin davon überzeugt, daß Ihre wunderbare Stadt uns einen nach dem anderen umbringen wird. Edward und ich werden nicht hierbleiben und abwarten, bis wir an der Reihe sind. Morgen früh verlassen wir die Stadt.« Lansing sah sie über das Feuer hinweg an, und einen Augenblick lang spürte er den Impuls, zu ihr hinüberzugehen und sie in die Arme zu schließen. Er tat es nicht, er blieb auf seinem Platz sitzen.
»Wir dürfen uns nicht aufsplittern«, sagte der General verzweifelt. »Unsere einzige Stärke ist unser Zusammenhalt. Sie verfallen in Panik.«
Sandra begann zu weinen. »Es ist alles meine Schuld«, schluchzte sie. »Wenn ich dageblieben wäre und besser aufgepaßt hätte.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, versuchte Jürgens sie zu trösten. »Er wäre in jedem Fall geflohen. Er hätte auf eine andere Gelegenheit gewartet. Wenn es nicht heute passiert, passiert es morgen. Er hätte gewiß nicht eher Ruhe gegeben, bis er die andere Welt erprobt hätte.«
»Ich denke, Jürgens hat recht«, sagte Lansing. »Er war ein verzweifelter Mensch, am Ende seiner Kraft. Wie schlimm es um ihn stand, wurde mir erst gestern abend bei unserem Gespräch klar. Ich bin überzeugt, niemand von uns trägt die Verantwortung für das, was geschehen ist.« »Und wie steht es mit Ihrer Flucht?« fragte der General. »Was sagen Sie dazu, Lansing?«
»Meiner Überzeugung nach sollten wir alle diesen Ort so schnell wie möglich verlassen«, antwortete Lansing. »Etwas Bedrohliches liegt über der Stadt, das haben Sie sicher auch schon gespürt. Sie ist tot, dennoch gibt es hier etwas, das uns beobachtet. Es beobachtet jeden Schritt, den wir machen. Eine Zeitlang kann man das Gefühl verdrängen, aber plötzlich ist es wieder da.«
»Und wenn wir übrigen hierbleiben?«
»Dann müssen Sie ohne uns hierbleiben. Ich verlasse die Stadt, und Mary kommt mit mir.«
Während Lansing sprach, bemerkte er, daß ihm sein Entschluß, die Stadt zu verlassen, erst in dem Augenblick bewußt geworden war, als Mary davon gesprochen hatte. Woher hatte sie es gewußt, fragte er sich. Welche unbewußte Kommunikation spielte sich zwischen ihnen ab? »Geben Sie mir noch ein paar Tage«, bat der General. »Mehr verlange ich nicht. Wenn sich innerhalb der nächsten Tage nichts ergibt, dann werden wir alle zusammen aufbrechen.« Die beiden schwiegen.
»Drei Tage«, drängte er. »Nur noch drei Tage.« »Ich bin kein Mensch, der seinen Partner bei einem Handel in die Enge treibt«, sagte Lansing. »Wenn Mary einverstanden ist, können wir uns auf zwei Tage einigen. Zwei Tage und keine Minute länger.«
Der General sah Mary fragend an.
»Also gut«, sagte sie. »Zwei Tage.«
Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Später würde der Mond aufgehen. Aber jetzt, nachdem die Sonne vom Himmel verschwunden war, lag die Stadt in tiefster Finsternis. Jürgens erhob sich unvermittelt. »Ich werde mich um das Abendbrot kümmern«, sagte er.
»Nein, lassen Sie mich das machen«, sagte Sandra. »Es lenkt mich ab, wenn ich etwas zu tun habe.«
Weit in der Ferne erscholl das schreckliche Schreien. Beim ersten Klang erstarrten alle; keiner rührte sich vom Fleck, alle lauschten wie gebannt. Und wieder, wie schon am Abend zuvor, schrie vom Hügel über der Stadt dieses einsame Wesen sein Elend in die Nacht hinaus.
19
Am Spätnachmittag des zweiten Tages machten Mary und Lan-sing die Entdeckung.
Zwischen zwei Gebäuden am Ende einer schmalen Gasse bemerkten sie ein Loch. Lansing leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Der Lichtstrahl enthüllte eine steile Treppe. »Warten Sie hier«, sagte er. »Ich werde hinabsteigen und mich einmal umsehen. Es wird ohnehin wieder eine Niete sein.« »Nein«, sagte sie. »Ich komme mit. Ich möchte nicht allein zurückbleiben.«
Vorsichtig ließ Lansing sich in das Loch gleiten und begann mit dem Abstieg, Mary folgte dicht hinter ihm. Es handelte sich um mehr als eine Treppe. Sie erreichten einen Absatz, und nach einer Vierteldrehung senkte sich eine weitere Treppe in die Tiefe. Kaum waren sie die ersten Stufen hinabgestiegen, als Lansing das Gemurmel vernahm. Er blieb ruckartig stehen, um zu lauschen, und Mary wäre fast über ihn gefallen. Das Gemurmel war leise. Eigentlich war es gar kein Gemurmel, Lansing hatte es nur im ersten Augenblick dafür gehalten. Das Geräusch glich eher einem kehligen Gesang, so als ob jemand leise vor sich hinsummte. Die Stimme war männlich. »Hier singt jemand«, flüsterte Mary.
»Wir müssen nachsehen, wer das ist«, sagte Lansing. Er verspürte kein Verlangen danach. Wenn es nach ihm gegangen wäre, er hätte auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre geflohen. Denn obwohl der Singsang (wenn es einer war) menschlich klang, war die Atmosphäre von einer so grauenhaften Fremdheit, daß ihm das Blut in den Adern gefror. Die zweite Treppe endete ebenfalls auf einem Absatz, und als sie die dritte Treppe hinunterstiegen, wurde der Gesang kräftiger. Vor und unter sich bemerkte Lansing'schwache Lichter - Katzenaugen, die ihn aus der Finsternis anstarrten. Er erreichte den Fuß der Treppe und kam auf einem Laufsteg aus Metall zu stehen. Mary stellte sich dicht neben ihn. »Ein Apparat«, sagte sie. »Oder eine Maschine.« »Schwer zu entscheiden, was es ist«, sagte er. »Irgendeine sonderbare Konstruktion.«
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