»Diese Suche nach einer unbekannten Größe kommt mir ziemlich sinnlos vor«, seufzte Mary. »Selbst wenn das, was wir suchen, hier in der Stadt ist - und dafür gibt es bisher keinen Anhaltspunkt -, kann es Jahre dauern, bis wir es finden. Wenn Sie mich fragen, ich glaube, der General ist verrückt.« »Er selbst ist wahrscheinlich nicht verrückt«, sagte Lansing, »er verfolgt nur ein verrücktes Ziel. Schon bei dem Würfel war er sicher, die Antwort auf unsere Fragen in der Stadt zu finden. Natürlich hatte er sich die Stadt damals anders vorgestellt. Er glaubte, wir würden hier Menschen antreffen.« »Da aber nun einmal keine hier sind, wäre es da nicht vernünftiger, wenn er seine Meinung änderte?« »Für Sie und mich wäre das angemessen: Wir können Fehler zugeben und uns auf eine veränderte Situation einstellen. Der General ist da anders; wenn er sich etwas vorgenommen hat, dann führt er es auch aus. Wenn er sagt, eine Sache sei so und so, dann ist sie auch so. Er wäre niemals bereit, seine Meinung zu ändern.«
»Und was, meinen Sie, können wir dagegen unternehmen?« »Gar nichts, wir müssen uns damit abfinden. Wir machen so weiter wie bisher. Vielleicht läßt er sich ja doch eines Tages überzeugen.«
»Ich fürchte, da müssen wir lange warten.«
»Dann müssen wir uns also entscheiden, was wir tun sollen«, sagte Lansing. »Mein Vorschlag wäre, ihm ein paar auf seinen Dickkopf zu geben.« Er grinste sie an, sie lächelte zurück.
»Das ist vielleicht eine Spur zu boshaft«, sagte sie, »aber ansonsten gefällt mir der Gedanke nicht schlecht.« Während der Unterhaltung hatten sie auf einer Steinplatte gesessen. Als sie sich erhoben, um weiterzusuchen, sagte Mary unvermittelt: »Hören Sie! Schreit da nicht jemand?« Einen Moment lang standen sie starr nebeneinander und lauschten, dann wiederholte sich das Geräusch, fern und schwach. Es war der Klang einer weiblichen Stimme.
»Sandra!« schrie Mary und stürmte im gleichen Augenblick die Straße hinab auf den Platz zu. Sie rannte leichtfüßig wie eine Gazelle, Lansing hatte Mühe ihr zu folgen. Die Straße war eng und kurvenreich, und die überall verstreuten Steinbrocken erschwerten ein rasches Vorwärtskommen.
Ein paarmal noch hörte Lansing die Schreie. Schließlich erreichte er den Platz, Mary hatte ihn schon halb überquert. Auf der Treppe stand Sandra und schwenkte verzweifelt die Arme. Sie schrie immer noch. Lansing versuchte, sein Tempo zu steigern, aber die Beine gehorchten ihm nicht.
Mary flog die Treppe hinauf und nahm Sandra in die Arme. Eng umschlungen standen die beiden Frauen da. Am Rande seines Blickfeldes sah Lansing den General auf den Platz einbiegen. Verbissen rannte er weiter, erreichte den Fuß der Treppe und hastete sie hinauf. »Was ist los?« keuchte er.
»Es geht um den Pastor«, sagte Mary. »Er ist verschwunden.« »Verschwunden? Sandra sollte doch auf ihn aufpassen.« »Ich mußte zur Toilette«, schrie Sandra hysterisch. »Ich mußte ein stilles Plätzchen finden! Es hat nur eine Minute gedauert.« »Haben Sie schon überall nachgesehen?« fragte Mary. »Natürlich habe ich ihn gesucht«, kreischte Sandra. »Überall!« Schwer atmend stapfte der General die Treppe empor. Weit hinter ihm hüpfte Jürgens über den Platz. In dem Versuch, rascher voranzukommen, schlug er wie wild mit der Krücke auf den Boden. »Was ist das für ein Aufruhr?« wollte der General wissen.
»Der Pastor ist verschwunden«, antwortete Lansing.
»Er ist also weggelaufen«, stellte der General fest. »Das Häschen ist da vongehoppelt.«
»Ich habe schon überall nach ihm gesucht«, jammerte Sandra. »Ich weiß, wo er ist«, sagte Mary. »Ich bin mir ziemlich sicher.« »Ich auch«, sagte Lansing und lief auf den Eingang zu. »Neben meinem Schlafsack liegt eine Taschenlampe. Ich bewahre sie dort immer auf«, rief Mary, während sie hinter ihm herrannte.
Lansing sah die Lampe und hob sie im Laufen auf. Er eilte zur Kellertreppe. Während er die Stufen hinabhastete, murmelte er: »Dieser Narr. Was ist er nur für ein schrecklicher Dummkopf!« Er erreichte den Keller und stürzte auf den Hauptkorridor zu. Der tanzende Lichtkegel der Taschenlampe erleuchtete den Weg vor ihm.
Vielleicht komme ich ja noch rechtzeitig, dachte er, ich könnte es noch schaffen. Aber er wußte genau, daß es ihm nicht gelingen würde.
Er schaffte es nicht rechtzeitig.
Der große Raum am Ende des Ganges war leer. Die Gucklöcher leuchteten schwach in der Dunkelheit.
Als er die erste Tür erreicht hatte, die Tür zur »Apfelblütenwelt«, strahlte er sie mit der Taschenlampe an. Die Riegel, mit denen die Tür gesichert war, hingen lose an einer Seite herab.
Lansing griff nach der Tür, wurde aber von einem kräftigen Schlag nach hinten gerissen. Die Taschenlampe fiel ihm aus der Hand und rollte nun, immer noch eingeschaltet, über den Boden. Lansing hatte sich bei dem Sturz den Kopf gestoßen; bunte Flecken tanzten vor seinen Augen, aber er kämpfte verzweifelt gegen die Kraft an, die ihn zu Boden drückte. »Sie Idiot!« schnauzte der General. »Was hatten Sie vor?« »Der Pastor«, stammelte Lansing. »Er ist durch die Tür gegangen.«
»Und Sie wollten ihm folgen?«
»Warum, ja natürlich. Vielleicht hätte ich ihn gefunden.« »Sie unverbesserlicher Narr«, schimpfte der General. »Das ist eine Tür, die man nur in einer Richtung benutzen kann. Sie können hindurchgehen, aber nicht wieder zurückkommen. Sie treten über die Schwelle und werden feststellen, daß keine Tür mehr da ist. Versprechen Sie, sich anständig zu benehmen, wenn ich Sie jetzt loslasse?«
Mary hob die Taschenlampe auf und richtete den Lichtkegel auf Lansing.
»Der General hat recht«, sagte sie. »Es könnte sich um eine solche Tür handeln.«
Dann schrie sie auf: »Sandra, lassen Sie das sein!«
Noch während sie schrie, schoß Jürgens' Krücke aus dem Dunkel vor und stieß Sandra zur Seite.
Der General rappelte sich hoch und stellte sich mit dem Rücken gegen die Tür, um sie gegen alle Eindringlinge zu bewachen. »Hören Sie gut zu«, sagte er. »Niemand wird durch diese Tür gehen, niemand darf sie auch nur berühren.« Unsicher schwankend stand Lansing auf. Jürgens half Sandra auf die Füße.
»Da ist er ja«, sagte Mary unvermittelt. »Hier ist der Schraubenschlüssel, mit dem er die Riegel gelockert haben muß.« »Er ist mir gestern schon aufgefallen«, sagte Jürgens. »Er hing an einem Haken neben der Tür.«
Mary bückte sich und hob den Schlüssel auf. »So«, sagte der General, »nachdem alle ihre verrückte Phase hinter sich haben, wollen wir uns wieder wie vernünftige Menschen benehmen. Wir schrauben jetzt die Riegel fest, anschließend werfen wir den Schlüssel fort.«
»Woher wissen Sie, daß dies eine einseitig benutzbare Tür ist?« fragte Sandra.
»Ich weiß es nicht«, sagte der General, »aber ich möchte darauf wetten.«
Und das ist der springende Punkt, dachte Lansing. Niemand konnte es wissen, auch der General nicht. Aber solange die Frage nicht völlig geklärt war, durfte eben keiner die Tür passieren.
»Es gibt keine Möglichkeit, es festzustellen«, sagte Jürgens, »außer, man geht durch die Tür. Und dann kann es zu spät sein.«
»Wie wahr«, stimmte der General zu. »Und deshalb wird es auch keiner ausprobieren.«
Er streckte die Hand aus, Mary gab ihm den Schraubenschlüssel, »Leuchten Sie hierherüber«, sagte er, »im Hellen kann ich besser arbeiten.«
18
»Er ist geflohen«, sagte der General. »Lansing, als er gestern mit Ihnen geredet hat, erwähnte er da irgend etwas in dieser Richtung?« »Von Fliehen hat er nicht gesprochen, da bin ich mir sicher. Aber er war völlig verzweifelt. Er bezeichnete diesen Ort als Hölle, und er meinte damit die wirkliche, biblische Hölle. Es war kein Fluchen.«
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