Und konnte ihn lebend wieder verlassen.
Aber er war verändert.
Er hatte etwas mitgebracht, ein Etwas, das sich Sonnendieb nannte, aber das war nur ein mythischer Name. Was seither in ihm lebte, war eher eine Kollage; eine künstliche Persönlichkeit, untrennbar mit dem Schleier verwoben, eingepflanzt von Wesen, die Sylveste als Abgesandten benützten und durch ihn Einfluss auf den Raum außerhalb des undurchdringlichen Raumzeitvorhangs zu gewinnen suchten.
Was sie von ihm wollten, war im Rückblick ganz einfach zu erklären.
Er sollte nach Resurgam reisen, wo die Gebeine ihrer leiblichen Vorfahren begraben waren.
Er sollte die Anlage der Unterdrücker finden.
Er sollte sich ihr so weit nähern, dass die Anlage, falls sie noch funktionierte, zum Leben erwachte und ihn als Angehörigen einer neu erstandenen, intelligenten Spezies identifizierte.
Wenn die Unterdrücker noch aktiv waren, hätten sie damit ein neues Opfer für ihren Vernichtungsfeldzug gefunden: die Menschheit.
Wenn nicht, konnten sich die Schleierweber gefahrlos nach draußen wagen.
Das bläuliche Licht, das ihn umgab, wirkte jetzt böse auf ihn; unbeschreiblich böse. Womöglich war er einfach dadurch, dass er diesen Planeten betrat, schon zu weit gegangen; hatte zu viel Intelligenz gezeigt und die Unterdrücker-Anlage überzeugt, dass er einer Spezies angehörte, die ausgerottet werden musste.
Sylveste verabscheute das, wozu die Amarantin geworden waren, und er hasste sich selbst dafür, dass er der Beschäftigung mit ihnen so große Teile seines Lebens geopfert hatte. Aber was konnte er daran jetzt noch ändern? Für solche Bedenken war es viel zu spät.
Der Tunnel war breiter geworden, und er befand sich — immer noch ohne seinen Anzug bewusst steuern zu können — in einem Raum mit vielfach geschliffenen Wänden, der ebenfalls in diesen faulig blauen Schein getaucht war. Überall hingen seltsame Gebilde, die ihn an Rekonstruktionen vom Innern einer menschlichen Zelle erinnerten. Geradlinige Formen herrschten vor, mehrfach ineinander verschlungene Rechtecke, Quadrate und Parallelogramme bildeten Hängeskulpturen, die keiner bekannten ästhetischen Richtung zuzuordnen waren.
»Was ist das?«, flüsterte er.
»Sieh sie als Puzzles«, sagte Sonnendieb. »Sie sollen in einem intelligenten Forschungsreisenden den Drang wecken, sie zu vervollständigen, aus den Formen die geometrischen Konfigurationen zu bilden, die in den Teilen angelegt sind.«
Sylveste verstand, was Sonnendieb meinte. Gleich bei der nächsten Figur ließen sich zum Beispiel die Formen mit wenigen Handgriffen zu einem Tesserakt zusammensetzen… es juckte ihn fast in den Fingern…
»Ich werde es nicht tun«, sagte er.
»Das brauchst du auch nicht.« Zum Beweis ließ Sonnendieb die Gliedmaßen von Sylvestes Anzug nach der Figur greifen. Sie war ihm viel näher, als er zunächst geschätzt hatte. Die Finger fassten das erste Stück und drehten es mühelos in die richtige Stellung. »Es gibt noch andere Tests in anderen Räumen«, sagte das Alien. »Deine geistigen Prozesse und — später — auch deine Biologie werden einer gründlichen Prüfung unterzogen. Die biologische Untersuchung wird vermutlich nicht angenehm sein. Aber sie ist auch nicht tödlich. Das würde andere Vertreter deiner Art abschrecken, aus denen sich ein umfassenderes Bild des Feindes gewinnen ließe.« Das klang fast schon humorvoll; als habe sich das Wesen lange genug in menschlicher Gesellschaft befunden, um etwas von den Verhaltensweisen der Menschen anzunehmen. »Leider bist du der einzige Vertreter der Menschheit, der diese Anlage jemals betreten wird. Aber du wirst ein ausgezeichnetes Versuchsobjekt abgeben, das kann ich dir versichern.«
»Da irrst du dich«, sagte Sylveste.
Eine Spur von Unruhe schlich sich in Sonnendiebs unerbittliche Geiststimme. »Bitte erkläre mir das.«
Sylveste ging nicht sofort auf den Wunsch ein. »Calvin«, sagte er. »Ich muss dir etwas sagen.« Noch während er sprach, war er sich nicht sicher, warum er das tat und an wen er sich eigentlich wandte. »Als wir im weißen Licht waren — als wir in der Hades-Matrix alles miteinander teilten —, da erkannte ich etwas, das ich schon vor Jahren hätte erfahren sollen.«
»Du meinst über dich.«
»Ja, über mich. Ich habe erkannt, was ich bin.« Sylveste hätte am liebsten geweint, er wusste, dass dies seine letzte Chance dazu war, aber seine Augen gestatteten ihm keine Tränen, das hatten sie von Anfang an nicht getan. »Und warum ich dich nicht hassen kann, wenn ich nicht auch mich selbst hassen will. Falls ich tatsächlich jemals Hass auf dich verspürt haben sollte.«
»Es war eigentlich ein Fehlschlag, nicht wahr? Was ich aus dir gemacht habe. Ich hatte dich nicht so geplant. Aber ich muss gestehen, dass ich mit deiner Entwicklung gar nicht unzufrieden bin.« Er verbesserte sich. »Ich meine natürlich mit meiner Entwicklung.«
»Ich bin froh, dass ich es erfahren habe — wenn auch erst so spät.«
»Was willst du jetzt tun?«
»Das weißt du doch schon. Haben wir nicht alles miteinander geteilt?« Sylveste lachte. »Seither kennst du auch meine Geheimnisse.«
»Aha. Du beziehst dich auf ein ganz bestimmtes kleines Geheimnis?«
»Was?«, zischte Sonnendieb. Seine Stimme knisterte wie die Radiogeräusche ferner Quasare.
Sylveste wandte sich wieder an das Alien. »Du hast doch sicher die Gespräche auf dem Schiff mit angehört. Als ich zuließ, dass alle meine Drohung für einen Bluff hielten.«
»Welche Drohung?«, fragte Sonnendieb. »Womit hast du geblufft?«
»Mit dem heißen Staub in meinen Augen«, sagte Sylveste.
Diesmal lachte er noch lauter. Und dann gab er eine Serie von Neuralbefehlen, die er sich schon vor langer Zeit eingeprägt hatte. Sie initiierten einen ganzen Wasserfall von Ereignissen in den Schaltungen seiner Augen und — ganz zuletzt — in den winzigen geschützten Antimaterie-Stäubchen, die darin eingebettet waren.
Ein Licht strahlte auf, reiner noch als in dem Portal, durch das man nach Hades gelangte.
Und dann war da nichts mehr.
Volyova sah es zuerst.
Sie beobachtete unverwandt den gewaltigen Konus der Unendlichkeit, während sie darauf wartete, von ihr erledigt zu werden. Das Schiff war schwarz wie die Nacht, sie konnte es nur sehen, weil es die Sterne verdeckte. Bedächtig wie ein Hai kam es näher. Irgendwo in seinem riesigen Leib grübelten Systeme darüber nach, wie man Volyova auf die interessanteste Weise vom Leben zum Tode befördern könnte. Nur so konnte sie sich erklären, warum es noch nicht zugeschlagen hatte. Schließlich befand sie sich in Reichweite sämtlicher Bordwaffen. Vielleicht hatte Sonnendiebs Anwesenheit dem Schiff einen etwas abartigen Sinn für Humor verliehen, vielleicht spürte es den Wunsch, sie mit sadistischer Langsamkeit zu Tode zu quälen, vielleicht war dieses tödliche Warten die erste Phase des Prozesses. Ihre Phantasie war jetzt ihr ärgster Feind. Sie erinnerte sich in allen Einzelheiten an sämtliche Systeme, die Sonnendiebs Zwecken dienen könnten. Da gab es Defensivwaffen, die imstande waren, sie (mit Lasern, die jede Wunde sofort kauterisierten) stundenlang zu schmoren oder in ihre Einzelteile zu zerlegen, ohne sie sofort zu töten. Man könnte sie auch von einem Trupp externer Servomaten zermalmen lassen. O ja, ihre Phantasie arbeitete grandios. Genau dieser fruchtbaren Erfindungsgabe hatte die Welt schon so viele Todesarten zu verdanken.
In diesem Moment sah sie es.
Auf Cerberus’ Oberfläche entzündete sich ein Funke und erhellte kurz die Stelle mit dem Brückenkopf. Für einen Sekundenbruchteil schien im Innern der Welt ein gewaltiges Licht aufgeflammt und sofort wieder erloschen zu sein.
Vielleicht war es auch eine gewaltige Explosion.
Dann sah sie, wie Gestein und verbrannte Maschinenteile ins All geschleudert wurden.
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