»Ich tue gar nichts«, sagte Sylveste. »Der Dreckskerl kontrolliert wahrscheinlich meinen Anzug.«
»Logisch. Er konnte schließlich auch Sajakis Anzug steuern. Wahrscheinlich hat sich der Faulpelz bisher nur zurückgelehnt und dir die Arbeit überlassen.«
»Ich glaube nicht«, sagte Sylveste, »dass du mit Beleidigungen jetzt noch viel ausrichten kannst.«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Im Grunde genommen…«
Er befand sich tief in einem leuchtenden luftröhrenähnlichen Tunnel mit so vielen Windungen und Kehren, dass man kaum glaubte, sich noch im Innern des Edelsteins zu befinden. Aber schließlich hatte er dessen wahre Größe nie mit Sicherheit festgestellt — sein Durchmesser konnte irgendwo zwischen ein paar hundert Metern und dreißig bis vierzig Kilometern liegen. Die wechselnde Form machte eine genaue Messung unmöglich, vielleicht gab es auch keine sinnvolle Lösung. Auch das Volumen eines fraktalen Festkörpers konnte man schließlich nicht bestimmen.
»Äh… was sagtest du?«
»Ich sagte…« Sylveste brach ab. »Sonnendieb, hörst du mir zu?«
»Wie immer.«
»Ich verstehe nicht, warum du mich hierher gelotst hast. Wenn du Sajakis Anzug steuern konntest — und den meinen die ganze Zeit über unter Kontrolle hattest — warum musste ich dann überhaupt mitkommen? Wenn du in diesem Ding etwas zu erledigen hast, wenn du etwas herausholen willst, konntest du das doch auch ohne mich tun.«
»Die Anlage reagiert nur auf organische Lebensformen. Einen leeren Anzug hätte sie als Maschinenbewusstsein gedeutet.«
»Das — Ding — ist eine technische Anlage? Wolltest du das damit sagen?«
»Eine Anlage der Unterdrücker.«
Im ersten Moment waren das nur leere Worte, aber gleich darauf verbanden sie sich — zunächst noch lose — mit gewissen Erinnerungen aus der Zeit im weißen Licht; dem Portal zur Hades-Matrix. Diese Erinnerungen verknüpften sich wiederum mit anderen, bis eine endlose Assoziationskette entstanden war.
Und die verhalf ihm zu einem gewissen Verständnis.
Mehr denn je war ihm klar, dass er nicht weitergehen sollte; wenn er ins Innerste dieses Edelsteins — der Unterdrückeranlage — vordrang, musste er mit dem Schlimmsten rechnen. Die Vorstellungskraft reichte nicht aus, um sich eine Katastrophe noch größeren Ausmaßes auszumalen.
»Wir dürfen nicht weitergehen«, sagte Calvin. »Ich weiß jetzt, was das ist.«
»Ich auch, aber es ist zu spät.«
Die Anlage war von den Unterdrückern zurückgelassen worden. Sie hatten sie gleich neben dem flimmernden weißen Portal, das noch älter war als sie, in eine Umlaufbahn um Hades gebracht. Es störte sie nicht, dass sie nicht ganz verstanden, wozu das Portal diente, und eigentlich auch keine Ahnung hatten, wer es dort aufgestellt hatte, neben dem Neutronenstern, mit dem — es gab da einige verdächtige Hinweise, denen sie nicht weiter nachgegangen waren — nicht alles so war, wie es sein sollte. Abgesehen von seiner ungewissen Herkunft passte es bestens in ihre Pläne. Ihre eigenen Anlagen waren so konstruiert, dass sie intelligente Lebewesen anlockten, und wenn man eine dieser Anlagen neben eine noch fremdartigere Entität stellte, waren Besucher garantiert. Diese Strategie verfolgten sie in der gesamten Galaxis: stets bauten sie ihre Unterdrückeranlagen neben Objekten von astrophysikalischem Interesse oder in der Nähe von Ruinen untergegangener Kulturen auf. An Stellen also, die von sich aus Aufmerksamkeit erregten.
Und die Amarantin waren gekommen, hatten an der Anlage herumgespielt und sich damit bemerkbar gemacht. Die Anlage hatte sie studiert und ihre Schwächen festgestellt.
Und sie hatte sie ausgelöscht — bis auf die kleine Schar von Abkömmlingen der Verbannten. Die hatten zwei Wege gefunden, um der gnadenlosen Verfolgung durch die Unterdrücker zu entgehen. Einige hatten sich durch das Portal begeben und in die Krustenmatrix integriert, um dort, konserviert im undurchdringlichen Bernstein nuklearer Masse, die man zur Rechenmaschine versklavt hatte, als Simulationen fortzubestehen.
Von Leben konnte dabei kaum die Rede sein, dachte Sylveste, aber zumindest hatte etwas von ihnen überdauert.
Und dann gab es die anderen: sie hatten einen zweiten Weg gefunden, den Unterdrückern zu entkommen. Eine nicht weniger drastische, ebenso unwiderrufliche Fluchtmöglichkeit…
»Sie wurden zu den Schleierwebern, nicht wahr?« Jetzt sprach Calvin — oder verlieh nur Sylveste seinen eigenen Gedanken Ausdruck, wie er es manchmal im Eifer des Gefechts zu tun pflegte? Er hätte es nicht sagen können, und es interessierte ihn auch nicht weiter. »Das war in den letzten Tagen; Resurgam war bereits zerstört und die meisten Raumfahrer waren aufgespürt und vernichtet worden. Eine Gruppe ging in der Hades-Matrix auf. Eine zweite lernte, wahrscheinlich aus den Transformationen im Umfeld des Portals, bis zu einem gewissen Grad die Raumzeit zu manipulieren. Diese Gruppe fand eine Lösung; eine Methode, um sich vor den Waffen der Unterdrücker zu schützen. Sie wickelten die Raumzeit um sich wie einen Mantel; ließen sie gerinnen, verfestigten sie zu einer undurchdringlichen Hülle. Und hinter solche Hüllen zogen sie sich zurück und dichteten sie ab für die Ewigkeit.«
»Es war immerhin besser als der Tod.«
Für einen Moment sah er ganz klar. Die hinter den Schleiern hatten gewartet und gewartet, hatten vom Universum ringsum kaum Notiz genommen und konnten auch kaum damit in Verbindung treten. Allzu sicher waren die Mauern, mit denen sie sich umschlossen hatten.
Sie hatten geduldig gewartet.
Schon als sie sich in die Klausur begaben, hatten sie gewusst, dass die Anlagen der Unterdrücker allmählich versagten und zusehends unfähiger wurden, Intelligenz zu unterdrücken. Für sie selbst kam die Entwicklung spät — doch nachdem sie eine Million Jahre in ihrer Raumzeitblase gesessen hatten, tauchte die Frage auf, ob die Gefahr womöglich vorüber sei.
Sie konnten die Schleier nicht einfach öffnen und hinausschauen — das wäre zu riskant gewesen, denn die Geduld der Unterdrücker-Maschinen war schier unerschöpflich. Ihre scheinbare Passivität konnte eine Falle sein, ein Spiel, um die Amarantin — die Schleierweber — aus ihrem Versteck auf das Schlachtfeld des offenen Weltalls zu locken, wo sie mit Leichtigkeit zu zerstören waren. Damit wäre nach einer Million Jahre die Säuberungsaktion beendet und diese Spezies vollends ausgerottet gewesen.
Doch nach und nach tauchten andere auf.
Vielleicht hatte dieser Abschnitt der Galaxis etwas an sich, das die Evolution von Wirbeltieren begünstigte, vielleicht war es auch nur Zufall, doch die Schleierweber sahen in den Menschen, die soeben die Raumfahrt entdeckt hatten, einen Abglanz dessen, was sie einst gewesen waren. Auch ihre psychischen Schwächen fanden sie wieder: den Drang nach Einsamkeit und den Wunsch nach Kameradschaft; die Sehnsucht nach den Tröstungen einer Gesellschaft und nach den leeren Weiten des Alls; die innere Zerrissenheit, die sie immer weiter nach draußen trieb.
Philip Lascaille war als Erster zu ihnen gekommen, vor dem Schleier, der jetzt seinen Namen trug.
Die Verwerfungen der Raumzeit im Umkreis des Schleiers hatten sein Bewusstsein aufgerissen, alles durcheinander geworfen und neu zusammengesetzt. Entstanden war ein sabberndes Zerrbild des einstigen Lascaille. Aber dieses Zerrbild zeigte Züge von Genialität. Die Schleierweber hatten ihm etwas eingepflanzt: das nötige Wissen, um jemand anderen sehr viel näher heranzuholen… und die Lüge, um diesem anderen das Abenteuer schmackhaft zu machen.
Kurz vor seinem Tod hatte sich Lascaille dem jungen Dan Sylveste anvertraut.
Gehen Sie zu den Schiebern, hatte er gesagt.
Denn auch die Amarantin hatten einst die Schieber aufgesucht und dem Schieber-Ozean ihre Neuralstrukturen aufgeprägt. Mit diesen Strukturen ließ sich die Raumzeit um den Schleier stabilisieren; sie ermöglichten es, in die immer dichter werdenden Falten vorzudringen, ohne von den Spannungen zerrissen zu werden. Nachdem Sylveste das Schieber-Transform in sich aufgenommen hatte, konnte er auf den Stürmen in die Tiefen des Schleiers reiten.
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