Er half dem Arzt und dem Sanitäter, die Leiche in dem Sack zu verstauen und aufzuladen, dann ließ er Olney und Pattas das blockierende Schild wieder hochholen und an seinen ursprünglichen Platz zurückbringen. Braunes Wasser strömte rauschend aus dem unteren Ende des Durchlasses und floß den Graben entlang davon. Der Arzt blieb neben Miles stehen, lehnte sich über das Straßengeländer und beobachtete, wie das Wasser in dem kleinen See sank.
»Glauben Sie, daß da auf dem Grund noch ein anderer liegen könnte?«, forschte Miles mit geheimem Schauder.
»Beim Morgenappell wurde nur er als vermißt gemeldet«, erwiderte der Arzt, »also wird vermutlich kein anderer mehr dort liegen.« Er sah allerdings dabei nicht so aus, als würde er darauf wetten.
Das einzige, was auftauchte, als der Wasserspiegel sank, war der durchnäßte Parka des Soldaten. Er hatte ihn offensichtlich auf das Geländer geworfen, bevor er in den Durchlaß gekrochen war, und von dort war er ins Wasser gefallen oder geweht worden. Der Sanitätsoffizier nahm ihn an sich.
»Sie nehmen das ganz schön cool«, bemerkte Pattas, als Miles sich von dem Sanitätswagen abwandte und der Arzt und der Sanitäter wegfuhren.
Pattas war nicht viel älter als Miles selbst.
»Haben Sie noch nie eine Leiche anfassen müssen?«
»Nein. Sie?«
»Ja.«
»Wo?«
Miles zögerte. Erinnerungen an Ereignisse, die sich vor drei Jahren zugetragen hatten, blitzten in seinem Gedächtnis auf. Die wenigen Monate, in denen er in einen verzweifelten Kampf fern der Heimat verwickelt gewesen war, nachdem er sich zufällig einer Truppe von Weltraumsöldnern angeschlossen hatte, waren ein Geheimnis, das er hier nicht erwähnen, ja nicht einmal andeuten durfte.
Die regulären kaiserlichen Truppen verachteten Söldner sowieso, ob lebendig oder tot. Aber die Tau-Verde-Kampagne hatte ihn sicherlich den Unterschied zwischen ›Übung‹ und ›Wirklichkeit‹ gelehrt, zwischen Kriegsspiel und Krieg, und daß der Tod subtilere Ansteckungswege hatte als nur die direkte Berührung.
»Früher«, sagte Miles zurückhaltend, »ein paarmal.«
Pattas zuckte die Achseln. »Nun ja«, gab er widerwillig zu, »zumindest haben Sie keine Angst, sich Ihre Hände schmutzig zu machen, Sir.«
Miles runzelte nachdenklich die Stirn. Nein. Davor habe ich keine Angst.
Miles markierte den Bachdurchlaß auf seinem Berichtspanel als ›gereinigt‹, lieferte das Scatcat, die Geräte sowie Olney und Pattas, die sehr kleinlaut geworden waren, wieder bei Sergeant Neuve in der Wartungsabteilung ab und machte sich dann auf den Weg zu den Offiziersunterkünften. Noch nie hatte er in seinem ganzen Leben so sehr eine heiße Dusche nötig gehabt.
Er patschte den Korridor in Richtung auf sein Quartier entlang, als ein anderer Offizier seinen Kopf aus der Tür streckte. »Ah, Fähnrich Vorkosigan?«
»Ja?«
»Sie haben vor einer Weile einen Vid-Anruf bekommen. Ich habe die Bestätigung für Sie eingegeben.«
»Anruf?« Miles blieb stehen. »Von wo?«
»Aus Vorbarr Sultana.«
Miles fühlte ein Frösteln im Bauch. Ein Notfall zu Hause? »Danke.« Er drehte sich um und ging schnurstracks auf die Zelle mit der Vidkonsole zu, die sich die Offiziere auf diesem Stockwerk teilten.
Feucht wie er war, ließ er sich auf den Sitz fallen und rief die Nachricht auf. Die Nummer erkannte er nicht. Er gab sie ein, zusammen mit seinem Gebührencode, und wartete. Es läutete einige Male, dann erwachte die Vidscheibe zischend zum Leben. Das gutaussehende Gesicht seines Cousins Ivan erschien und grinste ihn an.
»Aha, Miles. Da bist du ja.«
»Ivan! Wo, zum Teufel, bist du? Was bedeutet das?«
»Oh, ich bin zu Hause. Und das heißt nicht, bei meiner Mutter. Ich dachte, du möchtest vielleicht mal meine neue Wohnung sehen.«
Miles hatte die vage, verwirrende Empfindung, irgendwie auf eine Leitung in eine Parallelwelt oder zu einer anderen Astralebene gestoßen zu sein. Vorbarr Sultana, ja. Er hatte selbst einmal in der Hauptstadt gelebt, in einer früheren Inkarnation. Vor einer Ewigkeit.
Ivan nahm sein Vid-Aufnahmegerät hoch und machte damit eine Runde durch seine Wohnung. »Sie ist voll eingerichtet. Den Mietvertrag habe ich von einem Hauptmann vom Planungszentrum übernommen, der nach Komarr versetzt wurde. Eine wirklich günstige Gelegenheit. Gestern bin ich eingezogen. Siehst du den Balkon?«
Miles sah den Balkon. Er war in das honigfarbene Licht der Spätnachmittagssonne getaucht. Dahinter erhob sich, im Sommerdunst verschwimmend, die Silhouette von Vorbarr Sultana wie eine Märchenstadt.
Scharlachrote Blumen quollen über die Balustrade der Terrasse, so rot in dem gleichmäßigen Licht, daß Miles’ Augen fast schmerzten. Er hatte das Gefühl, er müßte gleich in seine Hemdtasche sabbern oder in Tränen ausbrechen. »Hübsche Blumen«, würgte er hervor.
»Ja, eine Freundin hat sie mir gebracht.«
»Freundin?« Ach ja, menschliche Wesen hatte es ja einmal in zwei Geschlechtern gegeben, vor langer Zeit. Das eine roch viel besser als das andere. Viel besser. »Welche?«
»Tatya.«
»Habe ich sie schon kennengelernt?« Miles versuchte, sich zu erinnern.
»Nö, sie ist neu.«
Ivan hörte auf, das Vid-Gerät herumzuschwenken, und erschien wieder auf der Vidscheibe. Miles’ verwirrte Sinne beruhigten sich etwas. »Na, wie ist das Wetter dort oben bei euch?« Ivan guckte ihn näher an. »Bist du naß geworden? Was hast du so gemacht.«
»Forensische … Klempnerarbeit«, brachte Miles nach einer Pause hervor.
»Was?« Ivan zog seine Stirn kraus.
»Ach, hat nichts zu sagen.« Miles nieste. »Schau her, ich bin froh, ein vertrautes Gesicht zu sehen und so weiter«, er war wirklich froh — auf eine schmerzhafte, seltsame Weise, »aber ich bin hier mitten im Dienst.«
»Ich habe schon seit ein paar Stunden schichtfrei«, merkte Ivan an. »Und bald führe ich Tatya zum Dinner aus. Du hast mich gerade noch erwischt. Also sag mir schnell, wie ist das Leben in der Infanterie?«
»Oh, großartig. Basis Lazkowski ist das einzig Wahre, weißt du.« In welchem Sinn, erklärte er besser nicht. »Keine Bewahranstalt für überzählige Vor-Herrchen wie das Kaiserliche Hauptquartier.«
»Ich erledige meinen Job!«, sagte Ivan, und es klang leicht pikiert. »Wirklich, dir würde mein Job gefallen. Wir verarbeiten Informationen. Es ist erstaunlich, worauf das Planungszentrum alles an einem Tag zugreift. Eine ganz tolle Sache. Das wäre genau dein Fall.«
»Komisch. Ich dachte, Basis Lazkowski wäre genau das Richtige für dich, Ivan. Stell dir mal vor, vielleicht hat man unsere Marschbefehle vertauscht?«
Ivan tippte sich an seine Nase und kicherte. »Das würde ich niemandem verraten.« Seine Stimmung wurde wieder nüchtern, mit einem Unterton echter Besorgnis. »Du, also, gib auf dich acht dort oben, ja? Du schaust wirklich nicht sonderlich gut aus.«
»Ich hatte einen strapaziösen Vormittag. Wenn du Schluß machen würdest, dann könnte ich mich unter die Dusche begeben.«
»Einverstanden. Also, paß auf dich auf.«
»Viel Spaß bei deinem Dinner.«
»Jawohl. Adieu.«
Eine Stimme aus einer anderen Welt. Dabei war Vorbarr Sultana nur ein paar Stunden suborbitalen Fluges entfernt. Theoretisch. Irgendwie war es tröstlich für Miles, daran erinnert zu werden, daß nicht der ganze Planet auf die bleigrauen Horizonte von Kyril zusammengeschrumpft war, auch wenn es für ihn so aussah.
Miles hatte den Rest dieses Tages Schwierigkeiten, sich auf das Wetter zu konzentrieren. Glücklicherweise schien dies sein Vorgesetzter nicht sehr zu bemerken. Seit dem Versinken des Scatcats neigte Ahn dazu, ein schuldbewußtes, nervöses Schweigen um Miles herum zu bewahren, außer wenn er direkt um spezifische Informationen angegangen wurde. Als der Dienst zu Ende ging, machte sich Miles direkt auf den Weg zum Lazarett.
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