Es war wie das Herumklettern in einem riesigen, vorsintflutlichen Kadaver. Das durch dicke Hautschichten gefilterte Licht war braun und unheimlich. Quids glänzende Augen stachen aus der Finsternis.
Und Rees war überall von Knochen eingeschlossen.
Noch immer atemlos sah er sich um. Er kam zu dem Schluß, daß er auf einem ›Regal‹ aus Knochen stehen mußte. Sein Rücken lehnte an einem Stapel Schädel und klaffender, zahnloser Kieferknochen, und seine Hand griff in einen Haufen durcheinanderliegender Wirbelsäulen. Das schräg durch die Öffnung einfallende Sternenlicht beleuchtete einen Abschnitt mit Schädeln, gesplitterten Waden- und Schienbeinen und Brustkörben, die wie erloschene Laternen aussahen. An einer Stelle war noch ein Unterarm mit einer Kinderhand verbunden. Die Knochen waren überwiegend kahl und wiesen eine verwittert aussehende Braunoder Gelbfärbung auf. Nur stellenweise waren noch Haut- oder Haarreste zu erkennen.
Der Planetoid war — nichts anderes als ein mit Menschenhaut bespannter Käfig aus Knochen.
Aus seinem tiefsten Inneren fühlte Rees einen Schrei emporquellen; er kämpfte ihn nieder und stieß seinen Atem in einem tiefen Seufzer aus. Dann mußte er die Luft dieser Todeszone einatmen. Sie war heiß, feucht und stank nach verwesendem Fleisch.
Als Quid ihn angrinste, wurde sein schimmerndes Zahnfleisch sichtbar. »Komm weiter, Mineur«, flüsterte er. Die Worte klangen erstickt. Wir müssen noch ein Stück gehen.« Dann stieg er tiefer in das Innere hinab.
Nach einigen Minuten folgte ihm Rees.
Während ihres Abstiegs nahm die Schwerkraft ab, und die Anzahl der Leichen unter ihnen verringerte sich. Schließlich zog sich Rees in völliger Schwerelosigkeit durch die Knochenstruktur. Knochenfragmente, — splitter, Knöchel und Fingergelenke schlugen gegen sein Gesicht, bis er glaubte, durch eine Wolke der Verwesung zu schweben. Auf ihrem Weg ins Innere wurde das Licht schwächer, aber Rees’ Augen paßten sich an die Dunkelheit an, so daß er die morbide Umgebung immer deutlicher erkennen konnte. Die Hitze und der Gestank des verrotteten Fleisches wurden unerträglich. Er transpirierte so stark, daß sein Poncho als feuchter Klumpen am Rücken klebte, und sein Atem wurde flach und schwer. Es schien fast unmöglich, überhaupt noch Sauerstoff aus der verseuchten Luft zu gewinnen.
Er versuchte sich daran zu erinnern, daß der Radius des Himmelskörpers nur ungefähr fünfzehn Meter betrug. Dennoch schien dies die längste Reise seines Lebens zu sein.
Dann erreichten sie das Zentrum der Knochenwelt. Rees kniff im düsteren Licht die Augen zusammen, um Quid erkennen zu können. Der Boney erwartete ihn schon mit in die Seiten gestemmten Armen. Er stand auf irgendeiner dunklen Masse. »Willkommen«, zischte er und fuhr mit den Fingern über das Knochengewirr vor sich. Offensichtlich suchte er etwas.
Rees schob die Füße durch eine letzte Schicht von Rippen zu der Fläche, auf der Quid stand. Es war Metall, stellte er geschockt fest; verbeult und mit Fett beschmiert, aber dennoch Metall. Er stand vorsichtig da. Die Gravitation war beachtlich. Dies mußte wohl eine Art Artefakt sein, das hier im Zentrum der Todeszone der Boneys vergraben war.
Er ließ sich auf die Knie nieder und fuhr tastend mit den Fingern über die Oberfläche. Es war zu dunkel, um eine Farbe erkennen zu können, aber er erkannte auch so, daß es kein Eisen war. Konnte es vielleicht das Metall einer Schiffswandung sein, so wie das Deck des Floßes im Abschnitt der Offiziersquartiere? Er schloß die Augen und tastete die Oberfläche ab, wobei er sich an die Beschaffenheit des weit entfernten Decks zu erinnern versuchte. Ja, entschied er mit wachsender Erregung, dies mußte ein Artefakt vom Schiff sein.
Rees ging um die Metallfläche herum und schob dabei die Knochen vor sich her. Das Artefakt war ein Würfel mit einer Kantenlänge von etwa drei Metern. Er stieß mit einem Zeh gegen einen Metallvorsprung, der sich als Überrest einer Art Flosse erwies, ähnlich den Ausformungen, die er auf den Maulwürfen und den Bussen auf dem Floß gesehen hatte. Konnte man diesen Kasten früher mit Düsen bestücken und mit ihm fliegen?
Spekulationen gingen ihm durch den Kopf und verdrängten den Durst, den Ekel und die Angst… Er stellte sich das ehemalige Schiff vor, groß, dunkel und manövrierunfähig, das sich wie eine Sonnenblume öffnete und einen Schwarm Beiboote ausstieß. Da war die Brücke mit ihrer glatten und schnittigen Oberfläche; die Busse/Maulwürfe, vielleicht als Ein- oder Zweisitzer bzw. als Drohne konstruiert, um auf unbekanntem Terrain zu landen und es zu sondieren — und dann gab es noch diesen neuartigen Typ, einen Kasten mit einer Kapazität von vielleicht einem Dutzend Personen. Er stellte sich vor, wie Besatzungsmitglieder in diesem großen Beiboot aufbrachen, um Nahrung zu suchen oder einen Weg zu Bolder’s Ring zurück zu finden…
Doch dann hatte irgendein unvorhersehbarer Unfall das Raumschiff ereilt. Der Proviant war ihnen ausgegangen — und um zu überleben, mußten sie sich anderweitig behelfen.
Als sie schließlich zurückkehren konnten — oder vielleicht von einem Suchtrupp gefunden worden waren, hatten sie in den Augen der anderen durch den Verzehr von Lebewesen des Nebels und ihrer Kameraden — ein Sakrileg begangen.
Und deshalb hatte man sie ausgesetzt.
Irgendwie hatten sie ihr havariertes Schiff in einen stabilen kreisförmigen Orbit um den Kern bringen können. Und einige von ihnen hatten überlebt; sie hatten Kinder aufgezogen und vielleicht Tausende von Schichten gelebt, bevor sie ihre Augen geschlossen hatten… Und die Kinder hatten zu ihrem Entsetzen feststellen müssen, daß es keine Möglichkeit gab, die Leichen im Weltraum zu bestatten. In diesem Sektor mit Milliarden Gravos war die Fluchtgeschwindigkeit des Schiffes bei weitem zu hoch.
Und nach Generationen bedeckten schließlich ganze Knochenschichten das Wrack des ehemaligen Schiffes.
Quid hatte eindeutig gefunden, wonach er gesucht hatte. Er zupfte an Rees’ Ärmel, und Rees folgte ihm zum anderen Ende des Bootes. Quid kniete sich hin und zeigte nach unten. Rees folgte der Richtung und schaute über die Kante des Schiffes. In der Wand unterhalb war ein Riß, und es schien gerade soviel Licht hindurch, daß Rees ins Innere des Beibootes sehen konnte.
Zuerst konnte er mit dem Anblick nichts anfangen. Das Schiff war mit zylindrischen Bündeln einer glänzenden, roten Substanz vollgepackt, wobei einige dieser Bündel durch Gelenke mit anderen verbunden waren, andere hingegen waren als unordentliche Stapel mit Tauen an der Wand festgezurrt. Das Material war teilweise zu einer grauschwarzen Masse zusammengebacken. Ein Hauch von Verwesung lag in der Luft, der Gestank verfaulenden Fleisches.
Rees musterte das Szenario prüfend. Dann sah er in einem ›Bündel‹ Augenhöhlen…
Quids Gesicht schwebte im Dämmerlicht, eine schreckliche Maske voller Falten. »Du siehst, daß wir keine Tiere sind, Mineur«, flüsterte er. »Das sind die Öfen. Wo wir die Krankheit aus dem Fleisch brennen… Normalerweise ist es hier unten heiß genug, bei der Fäulnis und all dem; doch manchmal müssen wir Feuer entlang der Wände machen…«
Die abgehäuteten und ausgeweideten Körper umfaßten alle Altersklassen und Körpergrößen; die ›Bündel‹ bestanden aus Gliedmaßen, Torsos, Köpfen und Fingern…
Er riß den Kopf zurück. Quid grinste. Rees schloß die Augen und zwang die Galle hinunter, die in seiner Kehle brannte. »Und es gibt hier keine Verschwendung«, dozierte Quid mit Befriedigung. »Die getrocknete Haut wird in die Oberfläche eingenäht, so daß wir auf dem Fleisch unserer Vorfahren gehen…«
Rees fühlte sich, als ob die ganze groteske Miniaturwelt um ihn herum pulsierte und der Knochenwald sich in großen Schüben auf ihn zubewegte und sich wieder zurückzöge. Er atmete tief ein und ließ die Luft pfeifend durch die Nase entweichen. »Du hast mich hierher geführt, damit ich etwas zu trinken bekomme«, konstatierte Rees so gleichmütig wie möglich. »Wo gibt es was?«
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