Sie näherten sich der Oberfläche. Die kleine kugelförmige Welt war dicht bevölkert mit Menschen, Erwachsenen und Kindern. Sie waren entweder nackt oder trugen zerrissene Kutten, waren jedoch alle klein, gedrungen und muskulös. Ein Mann stand unter ihrem kleinen Fahrzeug und beobachtete die Landung.
Die Oberfläche der Mikroweit bestand aus Schichten einer Materie, die wie getrocknetes Tuch aussah. An einer Stelle waren die Lagen aufgerissen und gaben den Blick in die innere Struktur des Himmelskörpers frei.
Rees identifizierte das Weiß von Knochen.
Schaudernd nahm er einen Zug aus James Flasche.
Der Mann dort unten sah nach oben, und als er Blickkontakt mit Rees bekam, hob er die Arme wie zu einem Willkommensgruß.
Jame landete die Platte sanft auf der rissigen Oberfläche der Kleinstwelt. Schweigend machte er sich daran, die Eisenstapel aus dem Netz zu entladen. Rees klammerte sich an das Netz und sah sich unbehaglich um. Der enge Horizont bestand aus Schichten haariger, brauner Materie, die sich träge bewegte. Und wieder sah Rees durch Risse in der Oberfläche weiße Knochen durchscheinen.
Er spürte, wie er die Kontrolle über seine Blase verlor. Er schloß die Augen und versuchte sich zu beherrschen. Nimm dich zusammen, Rees; du hast schon größeren und direkteren Gefahren gegenübergestanden…
Doch die Boneys waren ein Mythos aus seiner Kindheit, Horrorgeschichten zur Schlafenszeit, um ungehorsame Kinder zu erschrecken. In einem Universum mit dem ruhigen, automatisierten Ambiente der Brücke gab es natürlich keinen Platz für solche häßlichen Szenarien.
»Willkommen«, meinte eine hohe, trockene Stimme. »Hast du also noch einen Gast für uns, Jame?« Der Mann, den Rees aus der Luft gesehen hatte, stand nun über der Platte und nahm gerade eine Armvoll Eisen von Jame entgegen. Einige unverfänglich aussehende Lebensmittelpakete lagen zu Füßen des Mannes. Mit schnellen Bewegungen stapelte Jame sie auf der Platte und vertäute sie im Netz.
Der Boney hatte eine untersetzte Statur und eine tonnenförmige Brust; sein Kopf war eine faltige, haarlose Kugel. Er steckte in einer grob aus dem Material der Oberfläche zusammengeschneiderten Kutte. Als er seinen Mund höhlenartig zu einem Grinsen aufriß, stellte Rees fest, daß sich dort kein einziger Zahn mehr befand. »Was ist los, Junge? Willst du dem alten Quid denn nicht die Hand geben?«
Rees’ Finger krampften sich um die Schnüre des Netzes. Über ihm stand Jame mit einer Ladung Eisen. »Mach schon, Kumpel. Nimm das Zeug hier und steig von der Platte. Du hast nämlich keine andere Wahl. Und wenn sie merken, daß du Angst hast, wird es nur noch schlimmer für dich.«
Rees spürte ein Würgen in der Kehle; es war, als ob all die Schreckensvisionen, die er bisher über die Lebensweise der Boneys gehört hatte, schlagartig Realität würden.
Er biß sich auf die Lippe. Verdammt, er war ein Wissenschaftler Zweiter Klasse. Er rief sich Hollerbachs unbeirrten, schläfrigen Blick in Erinnerung. Der Mann hätte die Situation gemeistert. Er mußte es auch.
Rees löste die Finger von dem Netz und stand auf, wobei er die rationale Hälfte seines Geistes zum Arbeiten zwang. Er bewegte sich schwerfällig und tapsig; die Schwerkraft mochte vielleicht anderthalb Gravos betragen. Die Masse des kleinen Planeten mußte demnach… wie hoch sein? Dreißig Tonnen?
Er nahm das Eisen und trat ohne zu zögern von der Platte auf die Oberfläche. Sie war weich wie grob gewirktes Tuch und mit strähnigem Haar bedeckt, das an seinen Knöcheln kitzelte; und, o Gott, sie war warm, wie die Haut eines großen Tieres…
Oder eines Menschen.
Jetzt leerte sich zu seinem Schrecken die Blase, und Feuchtigkeit lief an seinen Beinen hinunter.
Quid öffnete seinen zahnlosen Mund und lachte brüllend.
Aus der Sicherheit der Platte meinte Jame: »Denk dran, daß du dich nicht zu schämen brauchst, Kumpel.«
Der seltsame Deal war abgeschlossen, und Jame betätigte die Steuerung. Mit einem Schwall heißen Dampfes hob die Platte ab und hinterließ vier verkohlte Krater in der weichen Oberfläche. Innerhalb weniger Sekunden wurde die Platte zu einem faustgroßen Spielzeug in der Luft.
Rees schlug die Augen nieder. Der Urin hatte eine Pfütze um seine Füße gebildet und sickerte jetzt in die Oberfläche.
Mit knirschenden Schritten kam Quid auf ihn zu. »Du bist jetzt ein Boney, Kumpel! Willkommen am Arsch des Nebels.« Dann deutete er auf die Pfütze zu Rees’ Füßen. »Darüber würde ich mir keine Gedanken machen.« Er grinste und leckte sich die Lippen. »Du wirst dich sogar noch darüber freuen, wenn du erst ein bißchen durstiger bist…«
Üble Vorahnungen gingen durch Rees’ Hirn. Er schauderte, nahm seinen Blick jedoch nicht von Quid. »Was soll ich jetzt machen?«
Quid lachte erneut. »Das bleibt dir überlassen. Du kannst hierbleiben und auf einen Flug warten, der nie kommen wird. Oder mit mir kommen.« Er winkte und machte sich mit dem Eisen unter dem Arm auf den Weg über die elastische Oberfläche.
Rees blieb noch für ein paar Sekunden stehen. Er wollte nicht einfach jede Hoffnung aufgeben, von diesem Ort wegzukommen, und sei sie noch so schwach. Aber er hatte wirklich keine andere Wahl; diese groteske Gestalt war sein einziger Bezugspunkt.
Er verlagerte das Gewicht des Eisens in seinen Armen und schritt vorsichtig über den warmen, unebenen Boden.
Sie legten ungefähr den halben Umfang der Mikroweit zurück und kamen dabei an primitiven Behausungen vorbei, die wahllos über die Oberfläche verstreut waren. Meistens handelte es sich dabei um einfache Zelte, die aus Oberflächenmaterie genäht waren und gerade eben den Regen abhalten konnten. Andere hingegen waren solider und standen, wie Rees sah, auf Eisenfundamenten.
»Beeindruckt, Mineur?« lachte Quid. »Wir steigen langsam in der Gesellschaft auf, stimmt’s? Schau, sie haben uns bisher alle geschnitten. Das Floß, die Bergleute, alle. Viel zu stolz, um sich mit den Boneys einzulassen, bei dem ›Verbrechen‹, das unsere Existenz darstellt… Doch jetzt geben die Sterne nichts mehr her, nicht wahr, Bergmann? Plötzlich kämpfen sie alle ums Überleben, und plötzlich lernen sie alle die Lektionen, die wir schon gelernt haben, in den Tausenden von Schichten.« Er beugte sich näher zu Rees und winkte wieder. »Es ist alles ein Geschäft, siehst du. Für ein wenig Eisen und ein paar Luxusgüter füllen wir die leeren Lebensmittelspeicher der Bergleute. Solange sie einen schön verpackten Behälter bekommen, machen sie sich nicht allzu viele Gedanken um seinen Inhalt. Hab’ ich nicht recht?« Und er lachte wieder, wobei er Rees’ Gesicht mit Speichel besprühte.
Rees zuckte zurück, unfähig zu sprechen.
Ein paar Kinder kamen aus den Hütten und starrten Rees an. Ihre Gesichter waren ausdruckslos und ihre nackten Körper gedrungen und schmutzig. Die Erwachsenen nahmen kaum Notiz von ihm; sie saßen in einem engen Kreis in ihren Hütten und sangen ein leises, getragenes Lied. Rees konnte die Worte nicht verstehen, aber die Melodie war zyklisch und eindringlich.
»Tut mir leid, wenn wir ungesellig wirken«, sagte Quid. »Aber es befindet sich ein Wal zwischen uns und dem Kern, und wir werden ihn bald mit unseren Gesängen zu uns herlocken.« Quids Augen nahmen einen träumerischen Ausdruck an, und er leckte sich die Lippen.
Als sie eine besonders schäbige Hütte passierten, brach Rees mit einem Fuß durch die Oberfläche und fand sich knöcheltief in einer fauligen, stinkenden Masse. Mit einem Schrei riß er den Fuß heraus und rieb ihn an einem saubereren Abschnitt der Oberfläche ab.
Quid lachte lauthals.
Aus der Hütte war eine Stimme zu vernehmen: »Nimm’s nicht tragisch. Du gewöhnst dich noch dran.«
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