Vielleicht konnte er sich zu einem der stationären ›Stäbe‹ hinarbeiten, oder zu der Verbindung zwischen Rumpf und Flossen. Er spähte seitwärts zum Körperende des Wals und konnte den Knorpelstrang verschwommen durch die Fleischmassen erkennen.
Es hätten ebensogut Welten dazwischen liegen können. Alles, was er tun konnte, war, sich hier festzuklammern.
Die Drehung beschleunigte sich weiter. Sterne zogen sich strichförmig unter ihm hin, und er spürte Benommenheit aufkommen. In seiner Vorstellung sammelte sich sein ganzes Blut unten in den Beinen und ließ das Gehirn unversorgt. Jetzt konnte er kaum noch seine Arme fühlen, und als er durch einen Schleier aus schwarzen Flecken nach oben blickte, sah er, daß die Finger der schwächeren linken Hand ihren Halt verloren.
Mit einem panikartigen Aufschrei zwang er neue Kraft in die Hände. Seine Finger krampften sich zuckend zusammen.
Und dann rissen die Knorpel.
Wie ein Vorhang, der entlang der Nähte aufgetrennt wurde. Aus dem Körperinneren des Wals entströmte heißes, fauliges Gas und nebelte ihn ein. Mit tränenden Augen schnappte Rees nach Luft. Die gerissenen Knorpel hingen plötzlich durch, und bald hing ein großer Klumpen aus dem Bauch des Wals heraus. Rees pendelte unter Schmerzen hin und her, konnte sich aber festhalten.
Jetzt kräuselte sich die Bauchpartie des Wals in dreißig Zentimeter hohen Wellen. Das Nervensystem des Tieres reagierte wohl nicht besonders schnell, aber dieser Bruch verursachte ihm sicher große Schmerzen. Dann erreichte die Welle die Bruchstelle. Die baumelnde Knorpelmasse ruckte auf und ab, einmal, zweimal, und noch öfter. Rees fühlte sich, als ob seine Schultern ausgerenkt und Nadeln in die Gelenke getrieben würden.
Wieder drohten seine Finger den Halt zu verlieren.
Der Riß im Fleisch des Tieres klaffte wie eine schmale Tür über ihm.
Mit zuckenden Schultern zog sich Rees so weit hoch, bis sein Kinn auf gleicher Höhe mit den Fäusten war. Er zog seine linke Hand weg…
…und wäre fast abgestürzt. Doch die rechte Hand klammerte sich noch immer um die Knorpel, und nun packte die Linke den Rand der Wunde. Er nahm die rechte Hand weg; die schwächere, fast gefühllose Linke schabte über schmierige Knorpel, doch nun hing er mit beiden Händen an der Wundöffnung.
In dieser Position verhielt er für einige Sekunden. Seine Armmuskeln schmerzten höllisch, und die Finger wollten schon wieder abrutschen.
Da spannte er die Rückenmuskeln an, zog die Füße vor das Gesicht, schwang sie über Kopfhöhe und durch die Öffnung. Dann schob er sich in einer fließenden Bewegung mit Beinen und Rücken über die Innenwand der Knorpel in das Innere des Wals. Schließlich konnte er mit den Händen loslassen. Mit letzter Kraft rollte er sich von der Öffnung weg.
Schwer atmend lag er auf dem Rücken, die gespreizten Beine an der Magenwandung des Wals. Unter ihm, gefiltert durch das transparente Fleisch, rotierten die Sterne, und weit oberhalb, wie große Maschinen in einer schwach beleuchteten Halle, befanden sich die Organe des Wals.
Seine Lunge rasselte, und Arme und Hände brannten. Mit der Dunkelheit, die über ihn kam, verschwand auch der Schmerz.
Rees erwachte mit einem brennenden Durst.
Er sah nach oben in das höhlenartige Innere des Wals. Das Licht schien jetzt trüber: vielleicht flog der Wal aus irgendwelchen Gründen tiefer in den Nebel hinein.
Die heiße und feuchte Luft roch faulig und stank irgendwie nach Schweiß. Trotz leichter Schmerzen in der Brust konnte Rees jedoch normal atmen. Vorsichtig stützte er sich auf die Ellbogen. Die Muskeln seiner Arme schmerzten noch immer, und die Fingernägel waren an beiden Händen eingerissen, doch die Fingerknochen schienen unversehrt und funktionsfähig.
Vorsichtig stand er auf.
Noch immer drehten sich die Sterne um den Wal, doch wenn er den Blick abwandte, wurde ihm nicht schwindlig. Er vermutete, daß er sich in einem konstanten Gravitationsfeld von ungefähr zwei Gravos befand. Als Rees nach unten blickte, sah er, daß seine nackten Füße mehrere Zentimeter tief in die zähe Knorpelmasse eingesunken waren. Nach einigen Gehversuchen konnte er fast problemlos laufen, vorausgesetzt er vermied es, auf der glatten Oberfläche auszurutschen.
Wieder machte sich der Durst brennend in seinem Hals bemerkbar. Er meinte fast zu spüren, wie sein Gaumen sich vor Trockenheit verschloß.
Er ging zurück zu der Öffnung, die er in die Knorpelschicht gerissen hatte. Mittlerweile hatte sich die Wunde zu einem so engen Spalt verkleinert, daß er sich gerade noch hindurchzwängen konnte. Er hätte nicht sagen können, wie lange er bewußtlos gewesen war, doch mußte der Heilungsprozeß für diesen Fortschritt mindestens eine Schicht benötigt haben. Er kniete sich auf die Knorpelmasse, die einen warmen, feuchten Teppich bildete, und schob sein Gesicht dicht an die Wunde heran. Eine Brise brachte ihm willkommene frische Luft. Rees sah den baumelnden Lappen aus Knorpeln, an dem entlang er sich in Sicherheit gehangelt hatte: die aufgerissene Haut hatte ihre Transparenz verloren und war mit einer dicken Fettschicht bedeckt. Vielleicht würde diese nachgeschleppte Falte irgendwann vom Körperkreislauf getrennt werden, zusammenschrumpfen und einfach abfallen.
Durch Rees Kletterei war rund um die Wunde das Fleisch von den Knorpeln abgeschabt worden; nur vereinzelt hingen noch einige Reste herum, wie die letzten Blätter an einem herbstlichen Baum. Rees lag auf dem warmen Boden, packte an einer Stelle die Knorpel und stieß den Kopf und den rechten Arm durch die Wunde. Dann griff er nach der Außenseite des Walkörpers und riß so viel Fleisch heraus, wie er greifen konnte. Während seiner Aktivitäten wehte durch die Rotation des Tieres ständig eine Brise über sein Gesicht und die bloßen Arme.
Als er fertig war, zog er sich von der Wunde zurück und verstaute seine kargen Vorräte, von denen er sofort eine Handvoll in den Mund schob. Der klebrige Saft des Walfleischs tröpfelte wohltuend seinen ausgedörrten Hals hinunter, und flockiges Fleisch verfing sich in seinem Bart. Dann hockte er sich auf den warmen Boden, und während er minutenlang vor sich hinkaute, verdrängte er die Gedanken an die Zukunft.
Nachdem das Mahl beendet und sein Hunger und Durst zumindest teilweise gestillt waren, hatte der Fleischstapel um mindestens die Hälfte abgenommen. Mit dem verdammten Zeug würde er kaum über die Runden kommen… Er stopfte den Rest in die Taschen seiner schmutzigen Kombination.
Nun machte sich ein anderes Problem bemerkbar, als der Druck in seiner Blase und im Mastdarm zu schmerzen begann. Irgendwie verspürte er Hemmungen, sich im Körper eines anderen Lebewesens zu erleichtern; es schien ihm ein obszönes Vergehen zu sein. Doch sein Schließmuskel machte ihm klar, daß er eigentlich keine andere Wahl hatte.
Schließlich ließ er die Hose herunter und hockte sich über die engste Stelle des Risses in der Magenwand.
In seiner Vorstellung entwickelte Rees ein bizarres Szenario, wie seine Exkremente in einer braungelben Wolke durch die Luft wirbelten. Es war natürlich höchst unwahrscheinlich, aber vielleicht würde das Zeug eines Tages den Gürtel oder das Floß erreichen. Würde dann einer seiner Bekannten angewidert nach oben blicken, um den Verursacher dieser Sauerei ausfindig zu machen — und dabei ihn verdächtigen?
Sein lautes Auflachen wurde von der weichen Wand um ihn herum absorbiert. Er hatte einige bevorzugte Adressaten, denen er eine solche Botschaft gerne hätte zukommen lassen. Gover, Roch, Quid… Vielleicht sollte er zielen.
Nachdem er seinem Bedürfnis nachgekommen war, stellte sich seine Neugierde wieder ein, und er sah sich im mysteriösen Innenleben des Wals um. Er wähnte sich in einem großen Raumschiff mit gläsernen Wänden. Vom Körperanfang erstreckte sich eine breite Röhre entlang der Körperlängsachse und verjüngte sich im hinteren Bereich. Unidentifizierbare Innereien rankten sich wie fette blasse Würmer um den zentralen Ösophagus und zweigten dann irgendwo ab. Säcke, die vier Personen hätten aufnehmen können und mit irgendeinem undefinierbaren Inhalt gefüllt waren, hingen von der röhrenförmigen Achse herab. Um die Hauptachse waren Organe gruppiert, und an der Innenseite der Außenhaut befanden sich weitere große, fremdartige Organe.
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