»Was sagst du dazu, Mineur?« Quid stand mit einem Speer in der Hand bei ihm. Der Boney grinste. »Das ist die richtige Art zu leben, wie? Besser als in den Eingeweiden eines toten Sterns herumzukratzen…«
Weitere Speere flogen durch die Luft, bewegten sich mit zunehmender Präzision durch das kombinierte Schwerefeld des Planetoiden und des Wals und fanden weiche Ziele im Körper des Tieres.
»Quid, wie können sie so genau zielen?«
»Ganz einfach. Stell dir den Planeten als einen Brocken unter dir vor. Und den Wal als einen anderen kleinen Brocken irgendwo dort…« Er deutete mit dem Finger die Richtung an. »In die Nähe seines Schwerpunkts. Von dort kommt die Anziehung, richtig? Dann brauchst du dir nur noch die Flugbahn vorzustellen, die dein Speer nehmen soll, und — ab dafür!«
Rees kratzte sich am Kopf und fragte sich, wie wohl Hollerbach auf diese Verballhornung der Orbitalmechanik reagiert hätte. Doch für die auf ihrer kleinen Welt gefangenen Boneys war die Entwicklung solcher Wurftechniken einfach überlebensnotwendig.
Weitere Speere flogen weiter, bis ein Entkommen für den Wal nicht mehr möglich schien. Sein Bauch berührte fast die Dächer der Kolonie. Männer und Frauen holten große Messer hervor, und bald würde das Schlachten beginnen. Rees fragte sich in seinem durch den Hunger verursachten Dämmerzustand, ob das Walblut wohl anders als Menschenblut riechen würde…
Und plötzlich rannte er los, fast ohne sich dessen bewußt zu sein. Mit einer leichten Bewegung schwang er sich auf das Dach einer der solideren Hütten — hätte er sich ohne seine Gewichtsabnahme so geschmeidig bewegen können? — und blickte stehend nach oben, zu dem faltigen, halbdurchsichtigen Dach aus Fleisch, das über ihm vorbeiglitt. Es war noch immer nicht in seiner Reichweite; und dann kam eine knapp einen Meter lange Hautfalte wie ein fallender Vorhang auf ihn zu. Er sprang und packte mit beiden Händen zu. Seine Finger glitten über verknittertes, trockenes Fleisch. Er suchte nach einem festen Halt und glaubte für eine panikerfüllte Sekunde, wieder zu fallen; und dann, seine Arme bis zu den Ellbogen in dem breiigen Fleisch, ergriffen seine Finger einen Schaft aus festerer Substanz, und er zog sich höher auf den Körper des Wals. Es gelang ihm, seine Füße hinaufzuschwingen und sie an der fleischigen Decke zu verankern. Und so segelte er, mit dem Kopf nach unten, über die Kolonie der Boneys hinweg.
Diese Enteraktion schien dem Wal neue Energie zu verleihen. Seine Flossen peitschten mit frischem Elan durch die Luft, und das Tier hob mit solchen Verrenkungen von der Oberfläche ab, daß Rees seinen labilen Halt zu verlieren drohte.
Zornige Rufe wurden ihm nachgeschickt, und ein Speer fuhr an ihm vorbei ins weiche Fleisch. Quid und die anderen Boneys schüttelten wütend die Fäuste. Rees sah, wie Gord mit bleichem, tränenüberströmten Gesicht nach oben blickte.
Der Wal setzte seinen Steigflug fort, und die Kolonie verwandelte sich von einer strukturierten Landschaft in eine kleine braune Kugel, die verloren in der Luft hing. Die Stimmen der Menschen gingen langsam im Rauschen des Windes unter. Die warme Haut des Wals pulsierte im Rhythmus seiner gleichmäßigen Bewegungen; und Rees war allein.
Das grosse Tier hatte seine Peiniger weit hinter sich gelassen und bewegte sich vorsichtig durch die Luft. Die Flossen drehten sich mit verhaltener Kraft, und der mächtige Körper erzitterte. Es schien, als ob der Wal dem dumpfen Schmerz der Stichwunden nachspürte, die ihm zugefügt worden waren. Durch das durchsichtige Körpergewebe konnte Rees die ganz nach hinten gedrehten drei Augen sehen, als wollte der Wal sein eigenes Inneres inspizieren.
Es hörte sich an wie das Rauschen des Windes, als die Flossen plötzlich ihre Taktfrequenz erhöhten. Der Wal schoß vorwärts und war bald außerhalb des Wirkungsbereichs der Gravitation, die von der Knochenwelt ausging. Während Rees zuvor den Eindruck hatte, an einer Decke zu hängen, meinte er nun, an eine weiche Wand gedrückt zu werden.
Neugierig untersuchte er die Substanz vor seinem Gesicht. Seine Finger waren noch immer in die Knorpelmasse unter dem fünfzehn Zentimeter starken Fleischmantel des Wals gekrallt. Das Fleisch selbst hatte keine Epidermis und wies eine leichte Rosafärbung auf. Die Masse war kaum fester als Schaumstoff, und es gab keine Anzeichen einer Durchblutung, obwohl Rees bemerkte, daß seine Arme und Beine auf einmal mit einer klebrigen Substanz bedeckt waren. Er erinnerte sich daran, daß die Boneys dieses Tier wegen seines Fleisches gejagt hatten, und impulsiv drückte er sein Gesicht gegen das Fleisch und riß einen Mundvoll heraus. Das Zeug schien in seinem Mund zu zergehen und verdichtete sich von einem schaumigen Brocken zu einer kleinen festen Tablette. Der Geschmack war intensiv und etwas bitter. Rees zerkaute die Materie und schluckte sie ohne Probleme hinunter. Das Zeug schien sogar seinen trockenen Hals zu beruhigen.
Plötzlich überkam ihn Heißhunger; er vergrub sein Gesicht im Fleisch des Wals und riß mit seinen Zähnen ganze Brocken heraus.
Nach einigen Minuten hatte er vielleicht auf einem zehntel Quadratmeter der Oberfläche des Tieres das Fleisch abgenagt und die Knorpel freigelegt. Jetzt fühlte er sich gesättigt. Der Wal konnte ihm also für eine ganze Weile als Proviantspeicher dienen.
Er sah sich um. Wolken und Sterne erstreckten sich rings um ihn, ein riesiger, öder Raum ohne Wände und Boden. Er trieb irgendwo in dem rötlichen Himmel und hatte vermutlich keine Chance mehr, irgendwann wieder einem anderen Menschen zu begegnen. Diese Vorstellung ängstigte ihn jedoch nicht; vielmehr kam nur eine leise Sehnsucht in ihm auf. Zumindest war er der Erniedrigung durch die Boneys entkommen. Wenn er schon sterben mußte, dann wenigstens auf diese Art, mit offenen Augen für neue Wunder.
Er nahm eine bequemere Position auf dem Körper des Wals ein. Es bedurfte fast keiner Anstrengung, diese Position zu halten, und die gleichförmige Bewegung, das Schlagen der Flossen wirkten überraschend beruhigend. Es war gut möglich, hier einige Zeit zu überleben, bis er vor Entkräftung den Halt verlor und abtrieb…
Seine Arme begannen zu schmerzen. Vorsichtig veränderte er, eine Hand nach der anderen, die Position seiner Finger. Doch bald breitete sich der Schmerz auch über Rücken und Schultern aus.
War es möglich, daß er so schnell müde wurde? Der Aufwand, sich hier unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit festzuhalten, war doch minimal. Oder?
Er sah über die Schulter zurück.
Die Welt drehte sich um ihn. Die Sterne und Wolken vollführten wirbelnde Rotationen um den Wal, und wieder klammerte er sich an eine Decke, von der er jeden Moment hinabfallen konnte…
Er verlor fast den Halt. Rees schloß die Augen und grub seine Finger noch tiefer in die Knorpelmasse. Er hätte natürlich damit rechnen müssen. Der Wal hatte Rotationssymmetrie und mußte sich deshalb drehen. Er mußte das Drehmoment seiner Flossen ausgleichen, und nur durch die Drehung wurde er auf seiner Reise durch die Luft stabilisiert. Es war eine ganz einfache Erklärung…
Wind peitschte über Rees’ Haar und drückte seinen Kopf nach hinten. Die Umdrehungsgeschwindigkeit erhöhte sich, und er spürte, wie der Zug an seinen Fingern stärker wurde. Wenn er nicht aufhörte, die verdammte Situation zu analysieren, und endlich etwas unternahm, würde er in wenigen Minuten abgeworfen werden.
Jetzt verloren seine Füße ihren ohnehin nicht festen Halt. Sein Körper schwang vom Wal weg, so daß er nur noch mit den Händen an dem Tier hing. Die Knorpel zwischen seinen verkrampften Fingern verdrehten sich elastisch, und mit jeder Schwingung seines Körpers strömten Schmerzen durch Bizeps und Ellbogen. Die Zentrifugalkraft stieg kontinuierlich an, von einem über anderthalb auf zwei Gravos…
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