Rees runzelte die Stirn. »Wovon sprichst du? Von den Unzufriedenen?«
»So werden sie von einigen genannt. Andere nennen sie die Gerechtigkeitssucher.«
Der Lärm der Feiernden schien vor Rees zurückzuweichen; es war, als ob Gover und er auf einem eigenen Floß irgendwo in der Luft schwebten. »Gover, ich war in jener Schicht im Theater des Lichts. War das etwa Gerechtigkeit?«
Govers Augen verengten sich. »Rees, du siehst selbst, wie die Elite des Floßes den Rest von uns niederhält — und wie ihr obszönes Wirtschaftssystem den Rest der menschlichen Bevölkerung des Nebels verelenden läßt. Die Zeit ist nahe, wo sie dafür werden büßen müssen.«
Rees starrte ihn an. »Du gehörst doch selbst zur Elite, oder?«
Gover biß sich auf die Lippe. »Ja, schon. Schau, Rees, ich gehe ein Risiko damit ein, daß ich so offen mit dir spreche. Und wenn du mich verrätst, werde ich bestreiten, daß dieses Gespräch jemals stattgefunden hat.«
»Was willst du von mir?«
»Gute Männer setzen sich für unsere Sache ein. Zum Beispiel Decker, Pallis…«
Rees lachte schallend. Decker — der hünenhafte Infrastrukturmitarbeiter, dem er bei seiner ersten Ankunft auf dem Floß begegnet war — das konnte er noch glauben. Aber Pallis? »Komm schon, Gover.«
Gover blieb ungerührt. »Verdammt, Rees, du weißt, was ich von dir halte. Du bist eine Minenratte. Du gehörst eigentlich nicht hierher, unter anständige Menschen. Aber dein Werdegang macht dich zu einem von uns. Alles, was ich will, ist, daß du kommst und dir anhörst, was sie zu sagen haben. Mit deinem Zugang zu den wissenschaftlichen Gebäuden könntest du… von Nutzen sein.«
Rees versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Gover war ein bösartiger, verbitterter junger Mann, und seine Argumente — die widersprüchliche Mischung aus Verachtung und Appell an kameradschaftliche Gefühle gegenüber Rees — waren primitiv und wirr. Aber was Govers Worten ihre Kraft gab, war ihre furchtbare Wahrheit. Ein Teil von Rees war darüber erschrocken, daß ein Mensch wie Gover ihn so schnell verwirren konnte — aber als Antwort auf dieses Gefühl brandete eine Woge des Zorns in ihm hoch.
Aber wenn es eine Revolution geben sollte — wenn die Labors zerstört, die Offiziere eingekerkert wurden — was dann?
»Gover, sieh mir in die Augen.«
Gover hob den Kopf.
»Siehst du den Stern da oben? Wenn wir das Roß nicht in Bewegung halten, wird dieser Stern uns schlucken. Und dann werden wir gebraten. Und selbst wenn wir das überleben sollten schau dich mal weiter um.« Er machte mit einem Arm eine ausladende Bewegung in Richtung des rotgefleckten Himmels. »Der Nebel stirbt, und wir werden mit ihm sterben. Gover, nur die Wissenschaftler, unterstützt vom gesamten Floß, können uns vor solchen Gefahren bewahren.«
Gover machte ein finsteres Gesicht und spuckte auf das Deck. »Glaubst du das wirklich? Komm, Rees. Ich werde dir etwas sagen. Der Nebel könnte uns noch für lange Zeit ernähren — wenn seine Ressourcen gleichmäßig verteilt würden. Mehr wollen wir nicht.« Er machte eine Pause. »Nun?«
Rees schloß die Augen. Würden dann etwa die Himmelswölfe, die nach einer Zerstörung des Floßes kommen und die Knochen seiner Kinder abnagen würden, Govers Theorien diskutieren? »Hau ab, Gover«, sagte er müde.
Gover lächelte spöttisch. »Wie du willst. Ich kann nicht behaupten, daß es mir leid täte…« Er grinste Rees mit einem an pure Verachtung grenzenden Gesichtsausdruck an. Dann machte er sich durch die Menge davon.
Der Lärm schien um Rees herumzutoben, ohne ihn zu berühren. Er drängelte sich durch die Menge vor der Bar, bestellte einen Whisky und kippte die Flüssigkeit in einem Zug hinunter.
Jaen kam zu ihm und packte ihn am Arm. »Ich habe dich gesucht. Wo…?« Dann fühlte sie die angespannten Muskeln unter Rees’ Jacke; und als er ihr sein Gesicht zuwandte, schrak sie vor seinem Zorn zurück.
Der Wissenschaftler zweiter Klasse stand in der Schleuse der Brücke. Er sah den frischgebackenen Wissenschaftler Dritter Klasse näherkommen und versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. Die Uniform des jungen Mannes war so offensichtlich neu, er starrte die silberne Hülle mit solcher Ehrfurcht an, und seine Blässe war ohne Frage die Folge seiner Tausend-Schichten-Feier, die wahrscheinlich erst vor wenigen Stunden zu Ende gegangen war… Beim Gedanken an seine eigene TausendSchichten-Feier und an seinen ersten Gang zur Brücke vor gut dreitausend Schichten fühlte sich der Wissenschaftler Zweiter Klasse ziemlich alt.
Wenigstens verrieten die Augen dieses Jungen Hunger nach Wissen. Allzu viele der Nachwuchswissenschaftler, mit denen der Wissenschaftler Zweiter Klasse zu tun bekam, waren bestenfalls übellaunig und abweisend, schlimmstenfalls geradezu verachtungsvoll; und immer mehr Mitarbeiter fehlten unentschuldigt oder wurden entlassen. Er streckte die Hand aus, als der junge Mann auf ihn zutrat.
»Willkommen auf der Brücke«, begrüßte ihn der Wissenschaftler Zweiter Klasse namens Rees.
Der Junge — blond und mit einem vorzeitigen Graustich im Haar — hieß Nead. Er lächelte verlegen.
Ein bulliger, grimmig dreinblickender Sicherheitsbeamter stand direkt in der Schleuse. Er starrte Nead drohend an, und Rees sah, wie der Junge zitterte. Rees seufzte. »Schon gut, Junge; das ist nur der alte Forv. Seine Aufgabe ist es, sich dein Gesicht einzuprägen, weiter nichts.« Es war noch nicht allzu lange her, dachte Rees wehmütig, daß solche strengen Sicherheitsmaßnahmen notwendig geworden waren; mit der zunehmenden Verschlechterung der Nahrungsversorgung war die Stimmung auf dem Floß schlechter geworden, und die Härte und Häufigkeit der von den ›Unzufriedenen‹ verübten Anschläge hatte sich gesteigert. Manchmal hatte Rees sich gefragt, ob…
Er schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu verscheuchen; er hatte seine Arbeit zu erledigen. Er führte den mit großen Augen staunenden Jungen langsam durch die glänzenden Korridore der Brücke. »Fürs erste ist es genug, wenn du eine grobe Vorstellung von der Aufteilung der Räumlichkeiten bekommst«, sagte er. »Die Brücke ist ein hundert Meter langer Zylinder. Dieser Korridor verläuft mittschiffs um die Brücke. Das Innere ist in drei Räume aufgeteilt — eine große Kammer in der Mitte und zwei kleinere Kammern an den Enden. Wir vermuten, daß die beiden letzteren früher einmal Steuerstände gewesen sind, vielleicht auch Lagerräume; wie du siehst, scheint die Brücke ein Teil des ursprünglichen Schiffes gewesen zu sein…«
Sie kamen zu einer der beiden kleinen Kammern, die mit Büchern, Papierstapeln und Gegenständen vielerlei Größe und Gestalt vollgepackt war. Zwei Wissenschaftler saßen da, konzentriert vornübergebeugt und eingehüllt in Staub. Nead sah Rees aus klaren braunen Augen an. »Wie wird dieser Raum jetzt genutzt?«
»Das ist die Bücherei«, sagte Rees leise. »Die Brücke ist der sicherste Ort auf dem Floß, am besten geschützt gegen die Witterung und Unfälle; deshalb bewahren wir unsere Aufzeichnungen hier auf. Wir archivieren so viele, wie wir können: Ein Exemplar jedes wichtigen Werkes und einige der mysteriöseren Erbstücke aus der Vergangenheit…«
Sie gingen weiter den Korridor entlang und kamen zu einer flachen, in den Fußboden eingelassenen Treppe. Dann stiegen sie zu einer in die innere Wand eingelassenen Tür hinab, die zur Zentrale der Brücke führte. Rees wollte den Jungen zunächst ermahnen, vorsichtig zu gehen — entschied sich dann aber mit einem Anflug bösartigen Humors, es nicht zu tun.
Nead machte vier oder fünf Schritte nach unten — und kippte dann mit rudernden Armen nach vorn. Er fiel jedoch nicht um, sondern hüpfte statt dessen wie ein Ping-Pong-Ball den Treppenschacht hinunter und schlug einen langsamen Purzelbaum. Es war, als wäre er in eine unsichtbare Flüssigkeit gefallen.
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