Nead zog ängstlich die Augenbrauen hoch. »Ist das normal?«
»Das kam aus der Bücherei«, murmelte Rees. »Nein, das ist verdammt überhaupt nicht normal.« Er atmete zur Beruhigung tief durch; und als er wieder sprach, war seine Stimme fest. »Ist gut, Nead. Ich möchte, daß du diesen Raum so schnell wie möglich verläßt. Warte, bis…« Seine Stimme brach ab.
Nead sah ihn mit einem Anflug des Verstehens an. »Bis was?«
»Bis ich dich kommen lasse. Nun geh.«
Der Junge bewegte sich halb rudernd zum Ausgang und bahnte sich einen Weg durch die Menge der Wissenschaftler.
Rees versuchte, die sich um ihn herum ausbreitende Panik zu ignorieren; er strich mit den Fingern über das Tastenfeld des Teleskops und arretierte das kostbare Instrument in seiner Ruhestellung. Für einen Moment bewunderte er sich selbst wegen seiner unbekümmerten Coolness. Letzten Endes aber, dachte er, reagierte er nur auf eine harte, schreckliche Tatsache. Menschen waren ersetzbar. Das Teleskop nicht.
Als er sich wieder von der Tastatur abwandte, sah er, daß das Observatorium verwüstet war. Papier und kleine Werkzeuge waren auf dem fugenlosen Fußboden verstreut oder trieben in der schwerelosen Zone. Und noch immer hing dieser Brandgeruch in der Luft.
Mit einem Gefühl der Leichtigkeit schritt er über den Fußboden der Kammer und kletterte hinaus in den Korridor. Rauch erfüllte die Luft und brannte ihm in den Augen, und als er sich der Bibliothek näherte, überlagerten Bilder der implodierten Gießerei und des Theaters des Lichts seine Gedanken, so, als ob sein Geist ein Teleskop wäre, das auf die Tiefen der Vergangenheit gerichtet war.
Als er die Bibliothek betrat, hatte er das Gefühl, in den halb verwesten Mund einer Mumie zu steigen. Bücher und Papiere hatten sich in geschwärzte Bündel verwandelt und waren gegen die Wand geschleudert worden; durch die Versuche der Wissenschaftler, ihren Schatz zu retten, waren die zerstörten Blätter zudem durch Löschwasser völlig eingeweicht worden. Es waren noch immer drei Männer hier, die mit feuchten Decken auf die schwelenden Seiten einschlugen. Als Rees eintrat, wandte sich einer von ihnen um. Bewegt erkannte Rees Grye, dem Tränen die geschwärzten Wangen hinunterliefen.
Rees fuhr vorsichtig mit einem Finger über die Einbände der zerstörten Bücher. Wieviel war in dieser Schicht verlorengegangen? — Welches Wissen, das sie vielleicht alle vor dem rauchigen Tod des Nebels bewahrt hätte?
Irgend etwas knackte unter seinen Füßen. Glasscherben lagen über den Fußboden verstreut, und Rees erkannte darunter den zerbrochenen, angesengten Hals einer Synthoweinflasche. Einen Augenblick lang wunderte er sich darüber, daß eine so primitive Erfindung wie eine mit brennendem Öl gefüllte Flasche solche Zerstörungen anrichten konnte.
Hier gab es nichts mehr für ihn zu tun. Er berührte Grye kurz an der Schulter; dann wandte er sich um und verließ die Brücke.
An den Türen waren keine Wachen zu sehen. Draußen bot sich ihm ein chaotisches Bild. Verschwommen nahm Rees rennende Menschen und Flammen am Horizont wahr; Fäuste und zornige Stimmen beherrschten das Bild auf dem Floß. Das von oben einfallende harte Sternenlicht ließ die Szenerie verschwimmen, machte sie farb- und konturenlos.
War es also doch geschehen. Seine letzten Hoffnungen, daß dieser Zwischenfall sich lediglich auf eine weitere Attacke auf die Labors beschränken würde, lösten sich in Luft auf. Das zerbrechliche Gefüge aus Vertrauen und Akzeptanz, welches das Floß zusammengehalten hatte, war endgültig zerbrochen…
Einige hundert Meter entfernt erblickte er eine Gruppe junger Männer, die einen stämmigen Mann umstellt hatten; Rees glaubte, Captain Mith zu erkennen. Der große Mann ging in einem Hagel von Schlägen zu Boden. Rees sah, daß er zunächst noch versuchte, Kopf und Leistengegend zu schützen; aber Blut lief in Strömen über sein Gesicht und seine Kleider, und bald droschen die Fäuste und Füße nur noch auf eine unförmige, leblose Masse ein.
Rees wandte sich ab.
Im Vordergrund saß eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern wie betäubt auf dem Deck und starrte in die Ferne. Sie saßen um ein Bündel, das aussah wie eine verkohlte Bücherreihe — vielleicht etwas, das sie aus dem Feuer gerettet hatten?
Aber in der verkohlten Masse war das Weiß von Knochen zu sehen.
Rees fühlte, wie es ihm die Kehle zuschnürte; er atmete tief durch und zog alle Register seiner Erfahrung. Jetzt war kein günstiger Zeitpunkt, um in Panik zu geraten.
Er erkannte Hollerbach. Der alte Chefwissenschaftler saß etwas abseits von den anderen und starrte auf die verbogenen Überreste seiner Brille. Als Rees näherkam, blickte er auf; eine beinahe komische Maske aus Ruß umgab seine Augen. »He? Oh, du bist es, Junge. Schöne Bescherung, nicht wahr?«
»Was ist geschehen, Hollerbach?«
Hollerbach spielte mit seiner Brille. »Schau dir das an. Die war eine halbe Million Schichten alt und ist absolut unersetzlich. Natürlich hat sie mir nie richtig geholfen…« Er schaute trübe auf. »Ist es nicht offensichtlich, was hier passiert ist?« knurrte er mit einem Hauch seiner früheren Energie. »Revolution. Die Frustration, der Hunger, die Entbehrungen — sie lassen ihre Wut an denen aus, die sie gerade in die Finger kriegen. Und das sind zufällig wir. Es ist so verdammt dumm…«
Rees fühlte unerwartete Wut in sich aufsteigen. »Ich werde Ihnen sagen, was dumm ist. Dumm ist, daß ihr den Rest des Floßes — und meine Leute auf dem Gürtel — in Unwissenheit und Hunger gehalten habt. Das ist dumm…«
Hollerbachs von einem Netz aus Falten umgebene Augen sahen todmüde aus. »Da kannst du recht haben, Junge; aber ich konnte niemals etwas daran ändern und kann es auch jetzt nicht. Meine Aufgabe war, das Floß intakt zu halten. Und wer, bitte schön, wird das in Zukunft tun?«
»Minenratte.« Die atemlose Stimme hinter ihm kippte fast über vor Überdrehtheit. Rees wirbelte herum. Govers Augen flackerten in seinem rot angelaufenen Gesicht. Er hatte seine Schulterstücke abgerissen, und seine Arme waren bis zu den Ellbogen mit Blut verschmiert. In seinem Gefolge näherte sich ein Dutzend oder mehr junge Männer; die Gesichter, mit denen sie die Wohnungen der Offiziere betrachteten, waren ausgezehrt vor Hunger.
Rees fühlte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten — und entspannte sie bewußt wieder. Mit mühsam beherrschter Stimme sagte er: »Ich hätte euch einlochen sollen, solange ich noch die Gelegenheit dazu hatte. Was willst du, Gover?«
»Letzte Gelegenheit, Ratte«, sagte Gover gefährlich sanft. »Komm jetzt mit uns, oder wir machen mit dir dasselbe wie mit diesen bösartigen alten Knackern. Letzte Chance.«
Die starren Blicke von Gover und Hollerbach übten einen fast körperlich spürbaren Druck aus: Der Gestank des Rauches, der Lärm, die blutigen Leichen auf dem Deck, all das floß in seiner Wahrnehmung zusammen, und er fühlte sich, als würde auf seinen Schultern das Gewicht des ganzen Floßes und seiner Bewohner ruhen.
Gover wartete.
Die Rotation des vertäuten Baumes wirkte friedlich und beruhigend. Pallis lehnte an dem warmen Baumstamm und kaute gemächlich an seiner Fliegerration.
Ein Kopf und die dazugehörigen Schultern brachen durch den dichten Blättervorhang. Es war ein junger Mann mit schmutzigem und ungekämmten Haar, und ein verschwitzter Bart klebte an seinem Hals. Er blickte sich unsicher um.
»Ich unterstelle mal, daß du einen guten Grund dafür hast, meinen Baum zu stören, Bursche«, sagte Pallis wohlwollend. »Was hast du hier zu suchen?«
Der Besucher schob sich durch die Blätter. Pallis registrierte, daß der Overall des Jungen die Spuren von kürzlich abgerissenen Schulterstücken aufwies. Er sollte sich schämen, dachte Pallis, daß er nicht auch den Overall selbst mit der gleichen Energie vom Körper gerissen — und gewaschen — hatte.
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