»Keine Ursache, Doav. Ich bin wohl noch nicht so weit, daß ich einen Mann allein sterben sehen kann. Nicht mal dich.«
Jetzt brandeten Fäuste und Knüppel auf sie zu. Rees machte einen vorsichtigen Schritt zurück. War er so weit gereist, hatte er so viel gelernt… nur um jetzt so zu enden?
…Er dachte an die Zeit der Revolution zurück, an den Moment, als er Gover außerhalb der Brücke gegenübergestanden hatte. Als er inmitten der Wissenschaftler gesessen und damit deutlich gemacht hatte, auf welcher Seite er stand, hatte Gover auf das Deck gespuckt und ihm den Rücken zugewandt.
»Du verdammter blöder Grünschnabel. Was, zum Teufel, glaubst du wohl, was du da tust?« hatte Hollerbach gezischt. »Es geht nur ums Überleben… Wenn wir die Arbeit nicht wieder aufnehmen, können wir gleich nach jeder Schicht eine Revolution anzetteln.«
Rees schüttelte den Kopf. Was Hollerbach gesagt hatte, klang wohl logisch — aber es gab sicher noch Wichtigeres als das reine Überleben. Vielleicht würde er die Dinge jedoch auch anders sehen, wenn er erst einmal so alt war wie Hollerbach…
Während der Schichtarbeit hatte er permanent zu wenig Nahrung, Wasser und Schlaf gehabt und mußte fast ständig im Freien leben, wo er mit primitivsten Hilfsmitteln niedere Wartungsarbeiten auf dem Deck zu verrichten hatte. Er hatte die ständigen Demütigungen ruhig hingenommen und darauf gewartet, daß diese düstere Zeit auf dem Floß einmal zu Ende gehen würde.
Doch die Revolution war nicht niedergeschlagen worden. Zumindest seine Gruppe war hierher gebracht worden; er vermutete, daß einige oder alle von ihnen jetzt für eine neue Gerichtsverhandlung selektiert worden waren. Er war darauf vorbereitet, sein Schicksal zu akzeptieren…
… bis der Anblick des einsam sterbenden jungen Offiziers seine mühsam aufrechterhaltene Geduld überstrapaziert hatte.
Doav wirkte jetzt ruhig und gefaßt und beantwortete Rees’ Blick mit einem Nicken. Rees streckte eine Hand aus, die der Offizier fest ergriff.
Die beiden wandten sich dem Mob zu.
Mittlerweile waren einige junge Männer unter Anfeuerungsrufen ihrer Kumpane auf den Balken geklettert. Rees wehrte ihre Knüppel mit dem Unterarm ab, mußte sich aber trotzdem Zentimeter für Zentimeter zurückziehen.
Unter seinem bloßen Fuß spürte er eine metallische Kante, die Kühle des Abgrunds.
Doch da schob sich jemand durch die Menge.
Pallis war Decker durch den Pöbel gefolgt und registrierte mit gewisser Belustigung die Ehrerbietung, die man dem großen Mann entgegenbrachte. »Haben wir jetzt also zwei Helden, eh?« höhnte Decker an der Wandung.
Gelächter kam auf.
»Glaubst du nicht auch, daß das Verschwendung wäre?« sinnierte Decker laut. »Du — Rees, du bist das doch? — wir wollten dich hier behalten. Wir brauchen kräftige Kerle; Arbeit gibt’s genug. Jetzt haben wir durch deine Blödheit zu wenig Leute… Ich sag dir was: Du. Der Offizier.« Decker winkte ihn zu sich. »Komm runter und geh zu den anderen Feiglingen dort drüben.« Ein mißbilligendes Grummeln erhob sich; Decker wartete, bis es abgeflaut war und meinte dann sanft: »Das ist natürlich nur mein persönlicher Vorschlag. Möchte sich jemand dem Willen des Komitees widersetzen?«
Natürlich nicht. Pallis grinste.
»Komm, Bursche.«
Doav drehte sich unsicher zu Rees herum. Der nickte und schob ihn behutsam zur Plattform. Der Offizier balancierte unbeholfen über den Balken und stieg auf das Deck hinab. Als er sich durch die Menge zu den Wissenschaftlern vorarbeitete, mußte er ein Spießrutenlaufen mit leichten Schlägen und Tritten über sich ergehen lassen.
Rees war nun allein.
»Was die Minenratte angeht…« Der Pöbel grölte in froher Erwartung. Mit einer Handbewegung sorgte Decker für Ruhe. »Was ihn betrifft, so kann ich mir ein viel härteres Schicksal vorstellen, als ihn von dieser Plattform springen zu lassen. Wir schicken ihn zum Gürtel zurück! Wenn er es mit den Mineuren zu tun bekommt, die er im Stich gelassen hat, wird er seinen ganzen Heldenmut brau…«
Seine Worte gingen in einem Beifallssturm unter; Hände wurden ausgestreckt und rissen Rees von dem Balken.
»Decker, wenn es dir etwas bedeuten sollte: Ich danke dir«, murmelte Pallis.
Decker ignorierte seine Worte. »Gut, Pilot; wirst du mit deinem Baum den vom Komitee angewiesenen Kurs nehmen?«
Pallis verschränkte die Arme. »Ich bin Pilot, Decker. Und kein Gefängniswärter.«
Decker hob die Augenbrauen, wodurch sich die Narben auf seinen Wangen weißlich dehnten. »Natürlich ist es deine Sache; du bist ein Bürger des Freien Floßes. Doch wenn du diese aufwieglerischen Wissenschaftler nicht mitnimmst, weiß ich nicht, wie wir sie ernähren sollen.« Er seufzte mit gespielter Besorgnis. »Im Gürtel haben sie zumindest eine Chance. Aber hier die Zeiten sind hart, weißt du. Am humansten wäre es noch, sie gleich jetzt über diese Kante gehen zu lassen.« Er sah Pallis mit ausdruckslosen schwarzen Augen an. »Was meinst du, Pilot. Sollen meine jungen Freunde mal ein wenig Sport treiben?«
Pallis spürte, wie er zitterte. »Du bist ein Bastard, Decker.« Decker lachte leise.
Es wurde Zeit für die Wissenschaftler, an Bord zu gehen. Pallis inspizierte noch einmal den Baum und kontrollierte die an das konturierte Holz angeflanschten Versorgungsmodule.
Zwei Männer vom Komitee zwängten sich ganz unvornehm durch die Blätter, wobei sie ein Seil hinter sich herzogen. Der eine, jung, groß und schon mit Glatze, nickte ihm zu. »Guten Flug, Pilot.«
Pallis schaute nur kalt und würdigte ihn keiner Antwort.
Die beiden Männer suchten auf den Ästen festen Tritt, spuckten in die Hände und begannen am Seil zu ziehen. Schließlich kam durch das Laub ein Bündel aus schmutzigem Tuch zum Vorschein. Die zwei kippten das Bündel auf eine Seite, lösten das Seil und schickten es durch die Blätter zurück.
Langsam wickelte sich das Bündel auf. Pallis ging zu ihm hinüber.
Das Bündel war ein Mensch, ein an Händen und Füßen gefesselter Mann: ein Wissenschaftler, wie aus den Überresten der purpurroten Abzeichen an der zerschlissenen Kleidung geschlossen werden konnte. Er versuchte sich aufzusetzen und ruckte dabei mit seinen gefesselten Armen. Pallis bückte sich, nahm den Mann am Kragen und riß ihn in die Höhe. Der Wissenschaftler schaute ihn mit einem Anflug von Dankbarkeit an; durch die Schmutzschicht auf seinem Gesicht konnte Pallis Cipse identifizieren, den früheren Chefnavigator.
Die Männer vom Komitee lehnten derweil am Baumstamm, warteten offensichtlich darauf, daß der nächste ›Passagier‹ an ihr Seil geknüpft wurde. Pallis ließ Cipse stehen und ging zu ihnen hinüber. Er packte den Glatzkopf an der Schulter und drehte ihn mit einem kräftigen Ruck zu sich herum.
Der Kahle beäugte ihn unsicher. »Was gibt’s, Pilot?«
Mit zusammengebissenen Zähnen sagte Pallis: »Es interessiert mich nicht im geringsten, was dort unten passiert; aber auf meinen Bäumen bin ich der Kommandant, und deshalb sage ich, daß diese Leute meinen Baum mit Würde betreten.« Er grub seine Finger in das Fleisch des anderen, bis ein Knorpel knackte.
Der Kahlköpfige schraubte sich aus seinem Griff. »Alles klar, verdammt; wir erledigen nur unseren Job. Wir wollen keinen Ärger.«
Pallis drehte sich um und ging zu Cipse zurück. »Willkommen an Bord, Navigator«, sagte er formell. »Es wäre eine Ehre für mich, wenn du mein Essen mit mir teilst.«
Cipses Augen waren geschlossen, und sein schmächtiger Körper wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.
Langsam näherte sich der Geleitzug aus Bäumen dem Innern des kosmischen Nebels. Dann dauerte es nicht mehr lange, und der Gürtel tauchte vor ihnen auf. Düster schweifte Rees’ Blick über die Kette von ramponierten Boxen und Rohrleitungen, die sich um den rostigen Punkt wickelte, der den Kern des Sterns darstellte. Da und dort bewegten sich Menschen insektengleich zwischen den Containern, und zwei Gießereien emittierten eine gelbliche Rauchwolke, die wie ein Fleck in der Atmosphäre über dem Gürtel hing.
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