Benommen machte er sich an den Feuerkesseln zu schaffen. Es war ein Alptraum: eine grausame Parodie seiner hoffnungsvollen Reise zum Floß vor so vielen Schichten. Während seiner Ruhezeiten mied er die Gesellschaft der anderen Wissenschaftler. Sie hatten sich in einem engen Kreis um Grye und Cipse versammelt, sprachen kaum und taten nur das, was ihnen gesagt wurde.
Und das sollten nun Männer mit Intelligenz und Kreativität sein, dachte Rees bitter. Doch dann sagte er sich, daß ihre Zukunft auch nicht unbedingt den Einsatz von Kreativität verlangen würde und konnte sie deshalb nicht dafür verurteilen, daß sie sich von der Welt abgewandt hatten.
Sein einziges, bescheidenes Vergnügen bestand darin, sich stundenlang am Stamm des Baums aufzuhalten und die Formation zu beobachten, die einige hundert Meter über ihm hing. Sechs Bäume markierten die Ecken eines unsichtbaren Hexagons; sie flogen in einer Ebene, und das so dicht beieinander, daß ihre Blätter sich hätten berühren können. Doch das Können der Piloten war so ausgeprägt, daß bei dem meilenweiten Sinkflug kaum ein Zweig geknickt wurde. Und aufgehängt unter den Bäumen, in einem durch sechs dicke Taue fixierten Netz, befand sich die kastenförmige Versorgungsmaschine. Rees konnte die Fragmente von Decksplatten des Floßes sehen, die noch immer an der Grundfläche der Maschine hingen.
Selbst jetzt bot der Flug einen erhebenden Anblick. Daß die Menschen zu solcher Schönheit, zu solchen Leistungen fähig waren…
Der Gürtel verwandelte sich in eine Schnur von Unterkünften und Fabriken. Rees sah, wie stecknadelkopfgroße, halbbekannte Gesichter ihren Landeanflug beobachteten.
Pallis kam zu ihm ans Ende des Baumes. »Mußte es also ein solches Ende nehmen, junger Bergmann«, sagte er rauh. »Es tut mir leid.«
Rees blickte ihn leicht verwundert an; das Gesicht des Piloten, in dem die Narben leuchteten, war auf den näherkommenden Gürtel gerichtet. »Pallis, es gibt nichts, was dir leid tun müßte.«
»Ich hätte dir wirklich einen Gefallen getan, wenn ich dich schon über Bord geworfen hätte, als sie dich bei mir ablieferten. Sie werden dir da unten eine schwere Zeit bereiten, Kumpel.«
Rees zuckte die Achseln. »Aber es wird nicht so schwer wie für die anderen«, meinte er und zeigte auf die Wissenschaftler. »Und außerdem hatte ich die Wahl. Ich hätte mich der Revolution anschließen und auf dem Floß bleiben können.«
Pallis kratzte sich am Bart. »Ich verstehe eh nicht, warum du es nicht gemacht hast. Die Boneys wissen, daß ich keine Sympathie für das alte System hege, und die Art, wie deine Leute am Boden gehalten wurden, kann dich doch nicht kalt gelassen haben.«
»Natürlich hat es das nicht. Aber… ich bin nicht auf das Floß gegangen, um Brandbomben zu werfen, Baum-Pilot. Ich wollte nur herausfinden, was mit der Welt nicht stimmte.« Er grinste. »Wirklich bescheiden, was?«
Pallis hob den Kopf noch höher. »Du hattest verdammt recht damit, Junge. Die Probleme, die du erkannt hast, bestehen nämlich nach wie vor.«
Rees ließ den Blick über den rötlichen Himmel schweifen. »Ja, das ist leider wahr.«
»Verlier nicht die Hoffnung«, sagte Pallis mit Nachdruck. »Der alte Hollerbach ist noch immer in Aktion.«
Rees lachte. »Hollerbach? Den werden sie nicht versetzen. Sie brauchen noch immer jemanden, der die Sache hier drin am Laufen hält. Jemand, der weiß, wo die Wartungshandbücher für die Versorgungsmaschinen sind, der vielleicht sogar das Floß vor einer Kollision mit einem anderen Himmelskörper bewahren kann… und außerdem glaube ich, daß sogar Decker vor ihm Angst hat…«
Jetzt lachten sie beide. Sie blieben noch für lange Minuten am Baumstamm und beobachteten, wie der Gürtel näherkam.
»Pallis, du mußt etwas für mich tun.«
»Was?«
»Sag Jaen, daß ich nach ihr gefragt habe.«
Der Baum-Pilot legte seine schwere Hand auf Rees’ Schulter. »Gut, Kumpel. Für den Augenblick ist sie sicher. Hollerbach hat sie in sein Assistenten-Team aufgenommen, und ich werde alles tun, damit sie da auch bleibt.«
»Danke. Ich…«
»Und ich werde ihr sagen, daß du dich nach ihr erkundigt hast.«
Ein Seil wickelte sich vom Baumstamm ab und schabte über die Dächer des Gürtels. Rees machte sich als erster an den Abstieg. Ein Bergmann, dessen eine Gesichtshälfte von einer schweren roten Brandwunde entstellt war, beobachtete ihn neugierig. Die Rotation des Gürtels trieb ihn vom Baum ab. Rees zog das tänzelnde Seil zu sich heran und half einem zweiten Wissenschaftler beim Abstieg zu den Dächern.
Bald schon versuchte eine ganze, um den Gürtel verteilte Schar von Wissenschaftlern mit unbeholfenen Manövern an das baumelnde Seil zu gelangen. Ein Haufen schmalgesichtiger Kinder vom Gürtel verfolgte ihre Aktivitäten mit großen Augen.
Dann erblickte Rees Sheen. Seine ehemalige Vorgesetzte hing an einer Hütte, wobei sie ein Seil um einen ihrer braunen Füße gewickelt hatte, und beobachtete die Prozession mit einem breiten Grinsen.
Rees ließ die seltsame Parade vorbeidefilieren und kämpfte sich zu Sheen durch. Er befestigte einen Fuß an ihrem Seil, richtete sich auf und fixierte sie.
»Na so was«, meinte er leise. »Wir dachten schon, du wärst tot.«
Dabei nahm er sie gründlich in Augenschein. Der energische Zug ihrer langen Gliedmaßen war ihm noch in unangenehmer Erinnerung; ihr Gesicht jedoch war hager, und ihre Augen lagen tief in den Höhlen. »Du hast dich verändert, Sheen.«
Sie stieß ein Lachen hervor. »Genauso wie der Gürtel, Rees. Wir haben hier harte Zeiten durchgemacht.«
Seine Augen verengten sich. Ihre Stimme klang fast brutal, mit einem Unterton der Verzweiflung. »Wenn du so intelligent bist, wie ich dir früher immer unterstellt habe«, erwiderte er, »läßt du dir von mir helfen. Laß mich dir etwas von dem vermitteln, was ich in der Zwischenzeit gelernt habe.«
Sie schüttelte den Kopf. »Dies ist nicht die Zeit für akademische Studien, mein Junge. Hier geht es nur noch ums Überleben.« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Und glaube mir, für dich und deine schlaffen Kollegen wird das hart genug werden.«
Die absurde, schleppende Prozession, die noch immer dem vom Baum nachgeführten Seil folgte, hatte bereits fast einen ganzen Umlauf um den Gürtel vollführt.
Rees schloß die Augen. Wenn nur dieses ganze Chaos ein Ende hätte, wenn er nur wieder an seine Arbeit gehen dürfte…
»Rees!« erklang Cipses dünne Stimme. »Du mußt uns helfen, Mann. Sag diesen Leuten, wer wir sind…«
Rees schüttelte die Verzweiflung von sich ab und zog sich über die Dächer hinweg.
Der Windenmechanismus bewegte den Stuhl auf das Zentrum des Sterns zu. Rees schloß die Augen, entspannte die Muskeln und versuchte, alle Gedanken auszublenden.
Die nächste Schicht hinter sich zu bringen: das war jetzt seine einzige Priorität. Immer nur eine Schicht auf einmal… Wenn der Exodus zum Gürtel für Grye, Cipse und die anderen eine Höllenfahrt gewesen war, dann stellte er für Rees das schmerzhafte Öffnen einer alten Wunde dar. Jedes Detail des Gürtels — die schäbigen Hütten, der Regen, der sich zischend über die Oberfläche des Kerns ergoß — schoben sich wieder in sein Bewußtsein, und es schien ihm, als ob die zwischenzeitlich auf dem Floß verstrichenen Tausende von Schichten nie stattgefunden hätten.
Doch in Wirklichkeit hatte er sich geändert. Vorher hatte er zumindest noch etwas Hoffnung gehabt… Nun gab es überhaupt keine mehr.
Die Bewegung des Stuhls verlangsamte sich. Die rostige Kuppel bewegte sich schaukelnd unter seinen Füßen, und er konnte schon den sich verstärkenden Sog der Gravitation des Sterns spüren.
Der Gürtel hat sich auch verändert, dachte er… und zwar zum Schlechteren.
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