Der Tanz ging weiter. Die Partner drehten sich umeinander und beschrieben mit ihren geschmeidigen Körpern ausgefeilte Parabeln; Rees sah mit halb geschlossenen Augen hingerissen zu. Der Physiker in ihm analysierte die perfekten Bewegungen der Tänzer. Die irgendwo im Hüftbereich gelegenen Schwerpunkte folgten den variierenden Schwerefeldern des Floßes, der Bühne und des jeweils anderen Tänzers in hyperbolischen Flugbahnen, so daß jedesmal, wenn sich die Tänzer vom Trampolin abstießen, ihre Bahnen eigentlich schon mehr oder weniger definiert waren. Aber die Tänzer verfälschten diese Pfade mit den Bewegungen ihrer schlanken Körper derart geschickt, daß es aussah, als ob die beiden nach Belieben durch die Luft flogen, unbeeinflußt von der Schwerkraft. Wie paradox, dachte Rees, daß in diesem Universum mit einer Gravitation von einer Milliarde Gravos Menschen sich so frei bewegen konnten.
Nun formierten sich die Tänzer zu einer letzten, eleganten Kurve, wobei ihre Körper sich drehten und ihre Gesichter wie in Konjunktion stehende Planeten aufeinander wiesen. Dann war es vorbei; die Tänzer standen Hand in Hand auf dem Trampolin, und Rees applaudierte und trampelte wie alle anderen. Man konnte mit einer Schwerkraft von einer Milliarde Gravos also noch mehr anstellen, als sie nur zu messen und sich unter ihr zu behaupten.
Ein Blitz, eine leichte Druckwelle, ein plötzlicher Rauchschleier. Das von unten in die Luft gejagte Trampolin verwandelte sich sogleich in ein flatterndes, vogelähnliches Wesen, wurde selbst zum Tänzer; die menschlichen Tänzer wirbelten schreiend durch die Luft. Dann versank das Trampolin in den zersplitterten Trümmern der Bühne, und die Tänzer hinterher.
Das schockierte Publikum wurde still. Das einzige Geräusch war ein leises, sporadisches Weinen, das aus den Trümmern der Bühne kam, und Rees traute seinen Augen nicht, als er sah, wie rotbraune Flecken die Überreste des Trampolins überzogen.
Ein stämmiger Mann mit orangefarbenen Schulterstücken betrat den Saal und baute sich in Kommandopose vor dem Publikum auf. »Hinsetzen!« befahl er. »Niemand verläßt den Raum!« Er behielt diese Positur bei, während die Zuschauer schweigend seine Anweisungen befolgten. Rees blickte sich um und ortete an den Eingängen des Theaters weitere orangefarbene Schulterstücke, und im Hintergrund noch mehr, die sich durch die Ruinen der Bühne vorkämpften.
Baerts Gesicht war blaß. »Sicherheitsdienst«, flüsterte er. »Dem Captain direkt unterstellt. Man sieht sie hier zwar nicht allzu oft, aber sie sind immer präsent… ob in Zivil oder uniformiert.« Er setzte sich zurück und verschränkte die Arme. »Was für ein Chaos. Sie werden uns alle verhören, bevor sie uns hier rauslassen; es wird Stunden dauern.«
»Baert, ich verstehe überhaupt nichts mehr. Was ist denn geschehen?«
Baert zuckte die Achseln. »Dreimal darfst du raten. Eine Bombe natürlich.«
Rees war genauso verwirrt wie bei dem Mädchen mit den Getränken. »Hat das jemand mit Absicht getan?«
Baert sah ihn nur düster an und antwortete nicht.
»Warum?«
»Keine Ahnung. Ich kann die Aktionen dieser Leute nicht billigen.« Baert kratzte sich an der Nase. »Aber es hat schon einige solcher Anschläge gegeben, meistens auf Offiziere oder auf Orte, an denen sie sich oft aufhalten. Wie dieser hier.«
»Siehst du, mein Freund, nicht jeder ist glücklich hier«, fuhr er fort. »Sehr viele Leute glauben, daß die Offiziere mehr bekommen, als sie verdienen.«
»Und deshalb tun Leute Dinge wie das hier?« Rees wandte sich ab. Die schlanken Körper der Schwerkrafttänzer wurden in die rotbefleckte Plane des Trampolins eingewickelt; Rees konnte einfach nicht glauben, daß sich dies alles wirklich vor seinen Augen abspielte. Er erinnerte sich an den Groll gegen Baert, der eine knappe Stunde vor dem Attentat in ihm aufgestiegen war. Vielleicht könnte er die Motive der Leute, die hinter dieser Untat standen, ja noch verstehen — warum sollte eine kleine Gruppe die Früchte der Arbeit anderer Leute ernten? —, aber deswegen töten?
Die Sicherheitsleute mit den orangefarbenen Schulterstücken begannen unter den Zuschauern Leibesvisitationen vorzunehmen. Resigniert und schweigend lehnten sich Rees und Baert zurück und warteten, bis sie an der Reihe waren.
Ungeachtet vereinzelter Zwischenfälle wie das Attentat im Theater fand Rees sein neues Leben faszinierend und lohnend, und die Schichten gingen unglaublich schnell vorbei. Allzu schnell, so schien es ihm, waren seine ersten tausend Schichten, der erste Abschnitt seines beruflichen Werdegangs, vorübergegangen, und jetzt war es soweit, daß seine Leistungen honoriert wurden.
Und so fand er sich eines Tages in einem geschmückten Bus wieder, betrachtete die roten Streifen eines Wissenschaftlers dritter Klasse, die gerade auf die Schulter seines Arbeitsanzugs gestickt worden waren und erschauerte unter einem Gefühl der Irrealität. Der Bus bahnte sich seinen Weg durch die Vorstädte des Floßes. Seine etwa ein Dutzend jungen Insassen, die in denselben Rang befördert worden waren wie Rees, waren in eine Wolke aus Lachen und Unterhaltung gehüllt.
Jaen betrachtete ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Besorgnis, wobei eine deutliche Falte über ihrer breiten Nase stand; ihre Hände ruhten im Schoß ihrer Ausgehuniform. »Hast du was auf dem Herzen?«
Er zuckte die Achseln. »Mir geht’s gut. Du kennst mich doch. Ich bin eben ein ernster Typ.«
»Verdammt richtig. Hier.« Jaen winkte dem Jungen, der Rees gegenüber saß und ergriff eine Flasche mit einem schmalen Hals. »Trink. Du bist befördert worden. Das ist deine tausendste Schicht, und du hast das Recht, sie zu feiern.«
»Also, so ganz stimmt das ja nicht. Denk dran, ich war ein Spätzünder. Für mich ist es eher wie tausend und eine…«
»Oh, du langweiliger Kerl, trink was von dem Zeug, bevor ich dich vom Bus schmeiße.«
Rees lachte, gab nach und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche.
In der Bar des Quartiermeisters hatte er schon einige hochprozentige Schnäpse probiert, und die meisten von ihnen waren stärker gewesen als dieser prickelnde Synthosekt; aber keiner von ihnen hatte auch nur annähernd diese Wirkung gehabt. Bald hatte er den Eindruck, daß die an den Kabeln hängenden kugelförmigen Strahler ein freundlicheres Licht verströmten als zuvor. Jaens Schwerkraftanziehung vereinigte sich mit seiner zu einer Quelle der Wärme und Ruhe; und die seichte Unterhaltung seiner Begleiter schien lebhafter und amüsanter zu werden.
Seine Stimmung hielt an, als sie unter dem Baldachin der fliegenden Bäume heraustraten und den Schatten der Plattform erreichten. Die große Metallfläche war ein vom Rand in das Floß hineinragender Vorsprung, der sich als schwarzes Rechteck gegen den roten Himmel abhob. Seine Stützpfeiler wirkten wie dünne Gliedmaßen. An einer breiten Treppe kam der Bus schnaufend zum Stehen. Rees, Jaen und die anderen stiegen tapsig aus dem Bus und kletterten die Stufen zur Plattform hoch.
Die Tausend-Schichten-Feier war schon in vollem Gange; ungefähr hundert Beförderte aus verschiedenen Klassen des Flosses tummelten sich dort. Eine aus Klapptischen aufgebaute Bar sorgte für das leibliche Wohl, eine zusammengewürfelte Band gab rhythmische Klänge von sich, und zu Füßen der Band tanzten sogar eng umschlungen einige Paare. Rees und Jaen, die sich von ihm mitziehen ließ, begaben sich auf einen Rundgang entlang der Begrenzung der Plattform.
Die Plattform war elegant konzipiert: Eine einhundert Meter lange, quadratische Platte war in einem solchen Winkel zum Rand angebracht worden, daß sie sich in der Horizontalen befand; dann hatte man sie mit einer Glaswand umgeben und so eine Aussicht ins Universum geschaffen. Am inneren Rand war das Floß selbst, das aus Rees’ Position wie ein großes, achtlos hingeworfenes Spielzeug wirkte. Wie im Theater verlieh das Gefühl, auf einer sicheren, flachen Oberfläche zu stehen, der Nähe des weiten Abhanges einen gewissen schwindelerregenden Nervenkitzel.
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