Die dem Weltraum zugewandte Seite der Plattform ragte über den Rand des Floßes hinaus, und in einen Teil des Bodens waren Glasplatten eingelassen. Rees stand über dem Abgrund des Nebels und hatte das Gefühl, durch die Luft zu fliegen. Er konnte Hunderte von Sternen sehen, die großräumig in einer dreidimensionalen Konstellation angeordnet waren und die Luft wie kilometerbreite Heliosstrahler erleuchteten; und in der Mitte des Panoramas, in Richtung des verborgenen Kerns des Nebels, standen die Sterne so dicht beisammen, daß Rees in einen breiten Schacht zu sehen glaubte, dessen Wände mit Sternen ausgekleidet waren.
»Meinen Glückwunsch, Rees.« Rees wandte sich um. Hollerbach, hager, ernst und völlig deplaziert inmitten der ganzen Fröhlichkeit, stand neben ihm.
»Danke, Sir.«
Der alte Wissenschaftler beugte sich mit Verschwörermiene zu ihm hinüber. »Natürlich hatte ich von Anfang an nicht den geringsten Zweifel daran, daß du deine Sache gut machen würdest.«
Rees lachte. »Ich selbst habe aber mehr als einmal daran gezweifelt, kann ich Ihnen sagen.«
»Tausend Schichten, he?« Hollerbach kratzte sich am Kinn. Nun, ich bin mir absolut sicher, daß du es noch viel weiter bringen wirst… Übrigens habe ich inzwischen eine Aufgabe für dich gefunden, Junge. Unsere Vorfahren, die erste Besatzung, haben die Zeit nicht nur in Schichten gemessen. Das wissen wir aus ihren Aufzeichnungen. Sie verwendeten zwar auch den Begriff ›Schichten‹, aber sie hatten noch andere Einheiten: Einen ›Tag‹, was ungefähr drei Schichten bedeutete, und ein ›Jahr‹, was ungefähr tausend Schichten waren. Wie alt bist du jetzt?«
»Ich glaube, ungefähr siebzehntausend Schichten, Sir.«
»Also ungefähr siebzehn ›Jahre‹ alt, was? Also, was glaubst du, worauf beziehen sich diese Einheiten, ›Tag‹ und ›Jahr‹?« Aber bevor Rees antworten konnte, hob Hollerbach die Hand und ging weg. »Baert! Also hat man dich doch so weit kommen lassen, obwohl ich es eigentlich verhindern wollte…«
Schalen mit Süßigkeiten waren entlang der Wände aufgestellt. Jaen nippte an irgendeiner schaumigen Substanz und packte Rees geistesabwesend an der Hand. »Komm mit. Hast du noch immer nicht genug von Besichtigungstouren und der Wissenschaft?«
Rees sah sie an, ziemlich benebelt von der Kombination aus Synthowein und Sternen. »Hm? Weißt du, Jaen, trotz aller Erzählungen von dem Universum, aus dem unsere Vorfahren kamen, scheint mir das Floß manchmal doch ein sehr schöner Ort zu sein.« Er grinste. »Und du selbst siehst auch nicht gerade schlecht aus.«
Sie knuffte ihn auf den Solarplexus. »Du auch nicht. Komm, laß uns tanzen.«
»Was?« Seine Euphorie verflog. Er schaute über ihre Schulter hinweg auf die herumwirbelnden, tanzenden Paare. »Schau, Jaen, ich habe noch nie im Leben getanzt.«
Sie schnalzte mit der Zunge. »Sei nicht so ein Feigling, du Minenratte. Hier sind nur ehemalige Assistenten wie du und ich, und ich kann dir eines versichern: Man wird dich nicht beobachten.«
»Nun…« hob er an, aber es war zu spät; entschlossen packte sie ihn am Arm und zog ihn in die Mitte der Plattform.
Er dachte ständig an die unglücklichen Schwerkrafttänzer im Theater des Lichts und an ihr wirbelndes, spektakuläres Ballett. Selbst wenn er fünfzigtausend Schichten leben sollte, würde er niemals so graziös tanzen können.
Glücklicherweise wurde hier ein anderer Tanzstil gepflegt.
Junge Männer beobachteten Mädchen, die ein paar Meter von ihnen entfernt standen. Die Leute, die tanzten, waren enthusiastische, aber keine sehr guten Tänzer; Rees sah ein paar Sekunden zu, dann begann er, ihr rhythmisches Schwingen zu imitieren.
Jaen machte ein langes Gesicht. »Du bist ein wirklich lausiger Tänzer. Aber wen stört’s?«
Unter den Bedingungen stark verminderter Schwerkraft — sie war hier nur halb so hoch wie bei den Laboratorien — hatte der Tanz eine verträumte Langsamkeit. Nach einer Weile war Rees schon nicht mehr so verkrampft; und schließlich begann es ihm sogar Spaß zu machen…
…bis seine Beine unter ihm nachgaben; mit einem leichten Stoß sackte er auf die Tanzfläche. Jaen schlug eine Hand vors Gesicht und unterdrückte ein Kichern; für kurze Zeit war er von lachenden Leuten umringt. Er stand auf. »Tut mir leid…«
Jemand tippte ihn auf die Schulter. »Das sollte es auch.«
Rees wandte sich um; vor ihm stand, mit einem breiten, strahlenden Grinsen, ein großer junger Mann mit den Schulterstücken eines Fähnrichs. »Doav«, fragte Rees langsam. »Hast du mir ein Bein gestellt?«
Doav brach in Gelächter aus.
Rees fühlte, wie sich die Muskeln seines Unterarms anspannten. »Doav, du gehst mir schon seit letztem Jahr auf die Nerven…«
Doav schaute verblüfft drein.
»…ich meine, die letzten tausend Schichten.« Und das stimmte; Rees konnte die ständigen Sticheleien, Witze und Sadismen, mit denen Doav und seinesgleichen ihn während der Arbeitszeit ärgerten, durchaus ertragen… aber trotzdem wäre er liebend gerne davon verschont geblieben. Und seit dem Zwischenfall im Theater war ihm bewußt, daß ein Verhalten, wie Doav es an den Tag legte, viel Schmerz und Leiden auf dem Floß verursachte; und vielleicht noch viel mehr verursachen würde.
Der Synthowein war jetzt wie Blut, der ihm zu Kopf stieg.
»Kadett, wenn wir etwas zu regeln haben…«
Doav fixierte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Nicht hier. Aber bald. O ja, sehr bald sogar.« Er wandte sich ab und verschwand in der Menge.
Jaen packte Rees’ Arm, so hart, daß er zurückzuckte. »Mußt du aus jedem kleinen Zwischenfall einen großen Auftritt machen? Komm, laß uns einen trinken.« Sie stapfte auf die Bar zu.
»Hallo, Rees.«
Rees blieb stehen und ließ Jaen vor sich in die Menge eintauchen, die die Bar belagerte. Ein schlaksiger junger Mann mit pomadigen Haaren stand vor ihm. Er trug die schwarzen Schulterstücke eines Mitarbeiters des Infrastrukturbereichs und sah Rees mit kalter Abschätzigkeit an.
Rees stöhnte. »Gover, ich glaube, diese Schicht ist wirklich nicht eine von meinen besten.«
»Was?«
»Schon gut. Ich hatte dich zuletzt kurz nach meiner Ankunft gesehen.«
»Ja, das ist aber auch nicht sehr verwunderlich.« Gover schlug mit der Hand leicht auf Rees’ Schulterstücke. »Wir verkehren nämlich in verschiedenen Kreisen, nicht wahr?«
Rees, der noch durch den Zwischenfall mit Doav auf hundertachtzig war, betrachtete Gover so gelassen wie eben möglich. Da waren immer noch dieselben scharfen Züge, der verdrossene, grimmige Blick — aber Gover wirkte jetzt gefestigter und selbstsicherer als früher.
»Machst du also noch immer den Knecht für diese alten Knacker in den Labors, was?«
»Auf so etwas antworte ich nicht, Gover.«
»Ach nein?« Gover rieb mit dem Handrücken über die Nasenlöcher. »Als ich dich in dieser Spielzeuguniform gesehen habe, habe ich mich gefragt, wie du dich jetzt wohl fühlst. Ich wette, du hast per Saldo nicht einmal eine Schicht gearbeitet — richtig gearbeitet —, seit du hergekommen bist. Es würde mich interessieren, was die anderen Ratten jetzt von dir halten würden. Was meinst du?«
Rees fühlte wieder, wie ihm das Blut in die Wangen stieg; der Synthowein schien zu Essig zu werden. Verwirrung keimte in ihm auf. Wollte er mit seinem Zorn gegen Gover nur vermeiden, der Wahrheit ins Auge sehen zu müssen, daß er zum Verräter an seiner Heimat geworden war …?
»Was willst du, Gover?«
Gover trat näher zu Rees heran. Sein Mundgeruch stieg zusammen mit dem Bukett des Weins in Rees’ Nase. »Hör zu, Minenratte, ob du es glaubst oder nicht, aber ich will dir einen Gefallen tun.«
»Was für einen Gefallen?«
»Die Verhältnisse hier beginnen sich zu ändern«, orakelte Gover. »Verstehst du, was ich damit sagen will? Die Dinge hier werden nicht immer so bleiben, wie sie sind.« Er blickte Rees an und wollte offenbar nicht weiterreden.
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