Solange es die auch bei nachlassender Geschwindigkeit konstante Schwerkraft erlaubt hatte, war er oft bei Lauger gewesen und hatte dessen Debatten mit den Astrophysikern Gold und Nakamura zugehört. Meistens drehten sie sich um das Rätsel der Zivilisationen „oberhalb des Fensters“, solcher also, die den Hauptstrang des Diagramms nach Hortega-Neyssel verlassen hatten. Da über ihr Schicksal nichts bekannt war, bildeten sie keine geringe Herausforderung für die Phantasie. Die Meinungen, die die meisten von diesem Geheimnis Faszinierten hegten, ließen sich grob in zwei Gruppen einteilen, je nachdem, ob das Schweigen seine Ursachen in der Soziologie oder in der Kosmologie hatte. Gold, obzwar Physiker, hielt zu einer soziologischen, noch dazu sehr extremen Deutung: der sogenannten Soziolyse. Danach versehrt eine Gesellschaft, die in die Epoche der technologischen Beschleunigung eintritt, zuerst die Lebensumwelt, die sie anschließend retten kann und will. Da diese konservatorischen Eingriffe sich jedoch als unzureichend erweisen, wird die Biosphäre aus Bedürfnis wie aus Notwendigkeit durch Artefakte ersetzt, es entsteht eine total umgestaltete Umwelt, die aber nicht künstlich im Sinne der menschlichen Auffassung dieses Terminus ist. Für die Menschen ist künstlich, was sie selber gefertigt haben; natürlich bleibt das Unberührte oder nur Beherrschte wie das Wasser, das Turbinen treibt, oder der Ackerboden, der landwirtschaftlichen Eingriffen unterzogen wird. „Oberhalb des Fensters“ hört dieser Unterschied auf zu bestehen. Da alles „künstlich“ wird, ist nichts mehr „künstlich“. Produktion, Intelligenz, Forschung unterliegen einer „Verpflanzung“ in die gesamte Umwelt; die Elektronik oder ihre unbekannten Pendants und Ausblühungen treten an die Stelle von Institutionen, gesetzgebenden Körperschaften, Verwaltungen, Schul-und Gesundheitswesen, die ethnische Identität nationaler Zusammenballungen schwindet, desgleichen verschwinden Grenzen, Polizei, Gerichte, Universitäten und Gefängnisse. Es kann zu einem „sekundären Höhlenzeitalter“ kommen: zu allgemeinem Analphabetismus und Nichtstun. Man braucht, um sein Auskommen zu haben, nichts mehr zu können.
Wer einen Beruf haben will, darf das natürlich, denn jeder kann tun und lassen, was er will. Eine Stagnation braucht das nicht zu bedeuten: Die Umwelt ist gehorsamer Fürsorger und kann sich in dem ihr möglichen Maße den Wünschen und Forderungen entsprechend umgestalten. Geschieht das aber so, daß sich der „Fortschritt“ vollzieht? Das können wir nicht beantworten, da wir selber dem Konzept des „Fortschritts“ in der Geschichte keine identische Bedeutung zugeschrieben und jeweils vom Standpunkt des historischen Augenblicks aus geurteilt haben. Darf man von „Fortschritt des Wissens“ in einer Situation sprechen, da die Spezialisierung jede Erkenntnisarbeit, jede konstruktive, intellektuelle, schöpferische Tätigkeit zersplittert, so daß in jedem Fach jedermann nur immer tiefer auf einem immer kleineren Feld gräbt? Wozu soll ein lebendiges Wesen rechnen können, wenn das Maschinen viel schneller und besser machen? Wozu soll man den Acker bestellen, Mehl mahlen und Brotbacken, wenn photosynthetische Systeme eine viel abwechslungsreichere und gesündere Kost produzieren als die Bauern, Bäcker, Köche und Konditoren? Warum nun schickt eine in solcher Soziolyse stehende Gesellschaft nicht in alle Himmel Rezepte für die eigene Vollkommenheit und Bequemlichkeit? Wozu aber sollte sie das tun, da es sie als eine Gemeinschaft des ungesättigten Hungers der Mägen und Hirne überhaupt nicht mehr gibt?
Es entsteht gewissermaßen eine große Masse von Individuen, unter denen sich schwerlich eines finden dürfte, das es als Lebensaufgabe ansähe, dem Kosmos Signale über sein wertes Befinden zukommen zu lassen. Die künstliche Umwelt wird unweigerlich mit solchem ingenieurtechnischen Bedacht angelegt, daß sie nicht die Merkmale einer planetaren „Person“ erwerben kann. Diese künstliche Umwelt ist ein Niemand, nicht anders als eine Wiese, ein Wald oder eine Steppe, nur mit dem Unterschied, daß sie nicht um ihrer selbst willen blüht und gedeiht, sondern für jemanden, für irgendwelche Geschöpfe. Werden diese davon nicht verblöden und sich in stumpfsinnige Freßsäcke verwandeln, wenn sie nur faul die Spielchen spielen, die ihnen ihr planetarer Vormund vor die Nase hält? Nicht unbedingt.
Das ist eine Frage des Standpunkts. Was für den einen Menschen ein Phantom oder Müßiggang ist, kann für einen anderen die Leidenschaft seines Lebens bedeuten.
Wie viel mehr müssen uns dann die Maßstäbe und Kriterien fehlen, wenn wir andere Geschöpfe einer anderen Welt in Betracht ziehen, aus einer anderen Ära einer Geschichte, die ohnehin völlig unterschieden ist von der unseren…
Nakamura und Lauger hingen einer kosmologischen Hypothese an. Wer das Universum erkennt, geht im Universum unter. Nicht daß er darin sein Leben verlöre — nein, der Aphorismus meint etwas gänzlich anderes. Astronomie, Astrophysik, Raumfahrt sind nur bescheidene, kleine Anfänge. Wir selbst haben bereits den nächsten Schritt vollzogen, denn wir beherrschen das Abc der sideralen Technik. Es geht auch nicht um eine Expansion, die einst sogenannte „Schockwelle der Vernunft“, die sich nach dem eigenen auch die benachbarten Planeten unterwirft und sich im Sternenexil über die Galaxien ausbreitet. Wozu auch? Um immer dichter das Vakuum zu bevölkern? Es geht nicht um das crescite et multiplicamini, sondern um Aktionen, die wir nicht begreifen und folglich um so weniger in ihrer Bedeu-tung bestimmen können. Was begreift ein Schimpanse von der Schinderei der Kosmogonie?
Ist das Universum ein sehr großer Kuchen und die Zivilisation ein Kind, das diesen Kuchen so schnell wie möglich aufzuessen versucht? Die Vorstellung von Invasionen, die von fremden Sternen kommen, ist die Projektion der aggressiven Eigenschaften des raubtierhaften, nur notdürftig gezähmten Affenmenschen. Da er selbst seinem Nächsten gern antäte, was diesem unangenehm ist, stellt er sich eine hohe Zivilisation nach ebendieser seiner Art vor. Flotten galaktischer Dreadnoughts sollen auf irgendwelchen bedauernswerten Planeten landen, um über die dort vorhandenen Dollars, Brillanten, Pralinen und natürlich die schönen Frauen herzufallen. Diese „anderen“ können damit so wenig anfangen wie wir mit den Weibchen der Krokodile. Womit befassen sie sich also, die „oberhalb des Fensters“? Mit dem, was wir nicht begreifen können, aber gleichzeitig können wir nicht unser Einverständnis geben, daß dieses Wirken der anderen über unser Begriffsvermögen geht. Bitte sehr: Wir sollen ein Loch in den Hades, in seine temporale Zwiebel machen, um uns darin zu verbergen. Das ist jedoch kein Versteckspiel. Wir wollen eine Zivilisation erwischen, ehe sie aus dem Fenster entkommt. Die Wahrscheinlichkeit künftiger Expeditionen mit einem ebensolchen Ziel ist gering. Unsere Nachfahren werden uns vielleicht sogar ein ehrendes Andenken bewahren: ein solches, wie wir es den Argonauten bewahrt haben, die auszogen, das Goldene Vlies zu holen. Khargner, der ebenfalls oft bei Lauger gesessen hatte, bezeichnete diese Deutung der „Zivilisation außerhalb der Kontaktschranke“ als „Verstehen durch Nichtverstehen“. In letzter Zeit allerdings konnte er sich eine Teilnahme an diesen Diskussionen nicht mehr leisten, da die Nähe des Ziels seine fast ständige Anwesenheit in den Lastverteileranlagen notwendig machte.
Mark Tempe, der wußte, daß er anders hieß, dieses Wissen aber mit Rücksicht auf die Ärzte nicht preisgeben durfte, studierte vor dem Schlafen die Zusammensetzung der Crew des HERMES. Von den zehn Besatzungsmitgliedern kannte er gut nur Gerbert und — durch die Begegnungen bei Lauger — den kleinen, schwarzäugigen Nakamura. Von dem Kommandanten, unter dem er dienen sollte, wußte er fast gar nichts. Er hieß Steergard und war der Erste Stellvertreter Ter Horabs. Sein zusätzliches Spezialgebiet war die soziodynamische Spieltheorie.
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