Jeder Teilnehmer des Kundschafterunternehmens mußte auf einem Gebiet ausgebildet sein, das sich mit dem eines anderen Besatzungsmitglieds deckte, so daß die Leistungskraft des Teams nicht durch Unfälle oder Erkrankungen in Mitleidenschaft gezogen wurde. Für die Antriebstechnik auf dem HERMES war Polassar zuständig, ein Gravistiker und Siderator. Tempe kannte ihn nur als großartigen Schwimmer aus dem Swimmingpool der EURYDIKE, wo er seinen muskulösen Körper bei Sprüngen mit dreifacher Schraube bewundert hatte. Das bot natürlich kaum die Gelegenheit, sich mit sideralen Technologien vertraut zu machen, folglich versuchte Mark es allein, aber er biß sich daran die Zähne aus, denn schon die Einführung verlangte Beschlagenheit in der ganzen raffinierten Nachkommenschaft der Relativitätstheorie. Erster Pilot war Harrach, ein großer, schwerer, hitziger Mann. Er kannte sich auch in der Informatik aus und hatte gemeinsam mit dem Astromatiker Halban den Computer des HERMES in seiner Obhut.
Oder dieser Computer — so hatte er sich selbst einmal geäußert — besaß in diesen beiden Männern seine Untergebenen.
Es war ein Computer der sogenannten Finalgeneration, denn kein anderer kam ihm in der Rechenleistung gleich. Die Grenze setzten Eigenschaften der Materie. Eine größere Rechenkapazität entwickelten nur die sogenannten imaginären Computer.
Sie waren von Theoretikern entworfen worden, die sich mit der reinen, von der realen Welt unabhängigen Mathematik befaßten. Das Dilemma der Konstrukteure entsprang notwendigen, zugleich aber gegensätzlichen Voraussetzungen, möglichst viele Neuronen auf möglichst geringem Raum unterzubringen. Die Laufzeit der Signale kann nicht länger sein als die Reaktionszeit der Komponenten des Computers. Andernfalls beschränkt die Laufzeit die Rechengeschwindigkeit. Die neuesten Relais reagierten im hundertmilliardsten Bruchteil einer Sekunde. Sie waren so groß wie Atome. Der eigentliche Computer hatte daher nur einen Durchmesser von drei Zentimetern. Jeder größere hätte langsamer gearbeitet. Der Computer des HERMES hielt zwar die Hälfte der Steuerzentrale besetzt, aber nur durch die Peripheriegeräte, durch Decoder und Baugruppen, sogenannte hypothesenträchtige oder linguistische Meditatoren, Gerät also, das nicht in der realen Zeit arbeitete. Die Entscheidungen in kritischen Situationen, in extremis, wurden hingegen von dem blitzartig reagierenden Kern getroffen, der nicht größer war als ein Taubenei. Er hieß GOD — General Operational Device.
Nicht alle hielten den Zufall für den Urheber dieser Abkürzung. HERMES war mit zwei GODs ausgerüstet, die EURYDIKE hatte achtzehn. Steergard, Nakamura, Gerbert, Polassar und Harrach hatten schon vor dem Abflug für das Kundschaftsunternehmen festgestanden, hinzu kamen nun Arago als Reservearzt (das sah nach einem unvermuteten Resultat der geheimen Abstimmung aus), Tempe auf dem Posten des Zweiten Piloten, der Logistiker Rotmont sowie Kirsting und El Salam, zwei Experten, die aus einem Dutzend Exobiologen und anderen Sachverständigen des irdischen SETI-Präsidiums ausgewählt worden waren. In den letzten Wochen hatten diese zehn ihren Wohnsitz im fünften Segment der EURYDIKE genommen, einer genauen Kopie des Inneren von HERMES. Man sollte sich sowohl miteinander als auch mit der bevorstehenden Aufgabe vertraut machen. Auf den Simulatoren wurden dort täglich verschiedene Varianten durchgespielt, wie man sich der Quinta nähern und welche Taktik man bei der Kontaktaufnahme mit den Bewohnern einschlagen würde. Thethes, ein anderer SETI-Abgesandter, der diese Simulationen betrieb, machte der künftigen Crew des HERMES schwer zu schaffen, denn er schickte ihr die raffiniertesten, einander überschneidenden Havarien auf den Hals und untermischte sie mit Wolkenbrüchen unverständlicher Signale, die die Stimme des fremden Planeten imitieren sollten.
Keiner wußte, wie und warum es sich damals eingebürgert hatte, den Apostolischen Gesandten nicht mehr Pater, sondern Doktor Arago zu nennen. Mark gewann den Eindruck, daß der Geistliche es selbst so gewollt hatte. Die Simulationen wurden abgebrochen, noch ehe ihr gesamtes Programm absolviert war: Ter Horab beschied die Kundschafter zu sich, der Grund waren die letzten Erkenntnisse vom System der Zeta.
Von den acht Planeten dieses ruhigen Sterns der Klasse K besaßen nur die vier inneren, die klein, von der Masse des Merkur oder des Mars waren, neben einer beträchtlichen vulkanischen Aktivität geringfügige Atmosphären. Weiter draußen wurde die Zeta von drei riesigen, gasförmigen Ringsternen umkreist. Sie waren von der Größenordnung des Jupiter, ihre von gewaltigen Stürmen heimgesuchten Atmosphären gingen in zur metallischen Phase geballten Wasserstoff über. Die Septa, zweimal so schwer wie der Jupiter, strahlte mehr Energie ins All ab, als sie von ihrer Sonne erhielt — es fehlte nicht viel, und sie wäre zum Stern entflammt.
Allein die Quinta, die die Zeta in anderthalb Jahren einmal umkreiste, war blau wie die Erde. Durch die Lücken der weißen Wolken bot sich der Blick auf die Konturen von Ozeanen und die Umrisse von Kontinenten. Die Beobachtung aus einer Entfernung von fast fünf Lichtjahren brachte beträchtliche Schwierigkeiten mit sich. Das Auflösungsvermögen der optischen Gerate, die die EURYDIKE an Bord hatte, wurde der Aufgabe nicht gerecht. Auch die Bilder, die man von den in den Raum entsandten Orbitern gewann, waren nicht scharf genug. Die Quinta befand sich, von der EURYDIKE aus gesehen, im zweiten Viertel. Diese ihre halbe Scheibe strahlte, und genau über ihr entdeckte man die Spektrallinien von Wasser und Hydroxyl in bedeutenden Konzentrationen. Am Äquator, direkt über ihm, schlang sich um die Quinta ein Schlauch von außerordentlich komprimiertem Wasserdampf.
Er befand sich oberhalb der Lufthülle und ließ auf einen Ring von Eis schließen, der mit seinem Innenrand die oberen Schichten der Atmosphäre streifte und demzufolge sehr bald dem Zerfall ausgesetzt war. Die Astrophysiker schätzten seine Masse auf drei bis vier Trillionen Tonnen. Falls das Wasser dem Ozean entstammte, hatte dieser etwa zwanzigtausend Kubikkilometer verloren: nicht mehr als ein Prozent seines Volumens. Da eine natürliche Ursache dieses Phänomens nicht auszumachen war, wurden Arbeiten hochwahrscheinlich, die man unternommen hatte, um den Meeresspiegel abzusenken und den Festlandsockel als Siedlungsland trockenzulegen. Andererseits sah die Operation nach Stümperei aus — der gefrorene Ozeanbruchteil war auf eine zu niedrige Umlaufbahn gebracht worden und mußte daher in einigen Jahrhunderten wieder hinunterfallen. Bei einem derartigen Schwung der Arbeiten war das verwunderlich bis zur Unbegreiflichkeit.
Überdies ließen sich auf der Quinta rasch verlaufende, noch rätselhaftere Erscheinungen beobachten. Das elektromagnetische Rauschen, das ungleichmäßig von vielen Orten des Planeten ausstrahlte, erfuhr eine so bedeutende Verstärkung, als hätten dort Hunderte von Maxwellschen Sendern auf einmal den Betrieb aufgenommen. Gleichzeitig verstärkte sich die Strahlung im Infrarotbereich mit kleinen Lichtblitzen in den Zentren. Es konnte sich um große Spiegel handeln, die das Sonnenlicht in den Kraftanlagen sammelten, aber bald zeigte sich, daß die thermische Emissionskomponente auch dort gering war. Das Spektrum dieser Lichtblitze war weder die Kopie des Zeta-Spektrums (was der Fall gewesen wäre, wenn man diese Sonne in Spiegeln gesammelt hätte), noch erinnerte es an die Spektren von Kernexplosionen. Das Rauschen nahm indessen zu. Es kam im Kurz- und Mittelwellenbereich, die Meterstrahlung erinnerte an eine modulierte Emission.
Diese Nachricht löste eine Sensation aus, zumal sie entstellt worden war: als handle es sich um eine Richtstrahlung wie den Radar, als habe der Planet also schon die EURYDIKE im Visier. Die Astrophysiker dementierten dieses Gerücht — kein Radar wäre imstande gewesen, in der Nähe des Kollapsars ein Raumschiff zu orten. In der Stunde Null jedenfalls herrschte Triumphstimmung: Die Quinta war unbestreitbar von einer Zivilisation bewohnt, die es technisch so weit gebracht hatte, daß sie nicht nur kleine Raumfahrzeuge, sondern ganze Ozeane ins All verfrachten konnte. Die Startvorbereitungen des Kundschafterschiffs erfolgten auf veränderter Umlaufbahn im relativ ruhigen Aphel des Hades. Das Zirpen der piezoelektrischen Anzeiger, das den unablässigen Spannungswechsel in den Wanten und Strin-gern des Rumpfes nachwies, hatte aufgehört. Gleichzeitig leuchtete auf den bisher blinden Monitoren des Startkontrollraums schräg die Ärmelspirale der Galaxie auf, wo man mit gutem Willen und viel Phantasie unter den weißlichen Sterngewölben und dunklen Staubwolken in einem reglos glimmenden Gestöber die Zeta Harpyiae erkennen konnte. Ihre Planeten waren optisch nicht erkennbar. Die Techniker machten den HERMES zum Ablegen bereit. In den Laderäumen des Hecks drehten sich die Krane; die Flansche der Rohrleitungen, durch die die EURYDIKE hyperbole Treibstoffe in die Tanks des Aufklärers pumpte, erzitterten unter dem Druck. Der Stab überprüfte die Systeme des Antriebs, der Navigation, der Klimatisierung, die Funktionstüchtigkeit der Dynatrone — einmal durch Vermittlung von GOD, dann wieder unter seiner Ausschaltung über parallele Übertragungslinien. Nacheinander meldeten die Rechenblöcke mit ihren Programmen und die Funkortungsgeräte Betriebsbereitschaft, die Antennen fuhren aus und ein wie die Hörner einer gigantischen Schnecke. Der tiefe Baß der Turbinen, die Sauerstoff in die Tunnel unter den Decks des HERMES pumpten, versetzten diese Lager, eine Art offener Docks, in leichte Schwingungen. Während dieses ameisenhaften Gewimmels kehrte die Milliarden Tonnen schwere EURYDIKE ihr Heck langsam zur Zeta Harpyiae, einem Geschütz gleich, das Feuer geben sollte. Die Besatzungsmitglieder des HERMES verabschiedeten sich vom Commander und von allen, denen sie sich verbunden fühlten. Auf dem Mutterschiff blieben zu viele Leute zurück, als daß jeder mit jedem wenigstens einen Händedruck hätte tauschen können. Anschließend gab Ter Horab zusammen mit denen, die von ihren Posten abkömmlich waren, der Crew des HERMES das Geleit bis in den Tunnelzylinder zwischen den Segmenten. Dort blieb er stehen, bis sich nach dem Schließen der großen Dockschleusen auch die kleinen Luken mit den Personenlifts verriegelt hatten und der HERMES sich, weiß wie Schnee, Zoll für Zoll von hydraulischen Verdrängern vorwärts geschoben, langsam löste wie ein Geschoß aus seiner Kammer — seine hundert-achtzigtausend Tonnen bewahrten trotz der Schwerelosigkeit ihre niemals verschwindende Trägheit. Die Techniker der EURYDIKE hatten mittlerweile gemeinsam mit den Biologen Terna und Hrus die HERMES-Besatzung für lange Jahre schlafen gelegt. Es war kein Eisoder Kälteschlaf — man hatte sie der Embryonisierung unterzogen. Die Menschen kehrten dabei ins Leben vor ihrer Geburt zurück — ins Embryonalstadium, ein an diese Ähnlichkeit zumindest erinnerndes Dasein ohne Atmung und unter Wasser. Schon die ersten kleinen Schritte ins All hatten offenbar werden lassen, wie sehr der Mensch der Erde verhaftet, wie wenig er den gewaltigen Kräften angepaßt ist, die zur Durchmessung eines großen Raums in möglichst kurzer Zeit erforderlich sind. Die heftige Beschleunigung quetscht den Körper und vor allem die luftgefüllten Lungen, drückt den Brustkorb ein und lahmt den Blutkreislauf. Da die Naturgesetze sich nicht beugen ließen, mußte man ihnen die Raumfahrer anpassen.
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