Loren ließ seinen Blick über das Publikum schweifen und stellte belustigt fest, daß fast alle beide Hände so hielten, daß sie voll zu sehen waren. Er entdeckte niemanden mit dem typisch geistesabwesenden Blick, der darauf hindeutete, daß über einen verborgenen Tastenblock eine private Botschaft übermittelt wurde. Aber irgendwie meldeten sich doch eine Menge Leute zu Wort.
015 WIE WÄRE ES MIT EINEM KOMPROMISS? EINIGE VON UNS MÖCHTEN VIELLEICHT LIEBER HIERBLEIBEN. DAS SCHIFF KÖNNTE WEITERFLIEGEN.
Kaldor verschaffte sich durch Klopfen Aufmerksamkeit. „Das ist nicht die Resolution, über die wir sprechen“, sagte er, „aber es wurde zur Kenntnis genommen.“
„Zu Antwort Null Null Zwei“, sagte Kapitän Bey und dachte gerade noch rechtzeitig daran, sich durch ein Nicken vom Vorsitzenden das Wort erteilen zu lassen, „die Zahl lautet achtundneunzig Prozent. Es würde mich nicht überraschen, wenn wir eine bessere Chance hätten, Sagan Zwei zu erreichen, als die Nordoder die Südinsel, über Wasser zu bleiben.“
021 BIS AUF KRAKAN, GEGEN DEN SIE NICHT VIEL MACHEN KÖNNEN, HABEN DIE LASSANER KEINE ERNSTHAFTEN PROBLEME. VIELLEICHT SOLLTEN WIR IHNEN EIN PAAR HINTERLASSEN. KNR.
Das mußte — mal sehen — natürlich, Kingsley Rasmussen sein. Offensichtlich hatte er nicht den Wunsch, inkognito zu bleiben. Er drückte eine Überlegung aus, die irgendwann fast alle einmal angestellt hatten.
022 WIR HABEN SCHON VORGESCHLAGEN, DASS SIE DIE TIEFENRAUMANTENNE AUF KRAKAN WIEDERAUFBAUEN UM MIT UNS IN KONTAKT ZU BLEIBEN. RMM.
023 ALLENFALLS ZEHN JAHRE ARBEIT. KNR.
„Meine Herren“, sagte Kaldor ein wenig ungeduldig. „Wir kommen vom Thema ab.“
Habe ich etwas beizutragen? fragte sich Loren. Nein,
ich werde diese Debatte aussitzen; für mich hat die Sache zu viele Seiten. Früher oder später muß ich zwischen Pflicht und Glück wählen. Aber jetzt noch nicht. Noch nicht…
„Ich bin ziemlich überrascht“, sagte Kaldor, nachdem volle zwei Minuten lang nichts mehr auf dem Schirm erschienen war, „daß zu einer so wichtigen Sache sonst niemand mehr etwas zu sagen hat.“
Er wartete hoffnungsvoll noch eine Minute lang.
„Schön. Vielleicht möchten Sie die Diskussion informell fortsetzen. Wir werden jetzt nicht abstimmen, aber Sie können während der nächsten achtundvierzig Stunden Ihre Ansicht auf dem üblichen Wege aufzeichnen. Vielen Dank.“
Er warf Kapitän Bey einen Blick zu, und der erhob sich mit einer Schnelligkeit, die seine unverkennbare Erleichterung verriet.
„Danke, Dr. Kaldor. Die Schiffsratsversammlung ist hiermit beendet.“
Dann schaute er nervös zu Kaldor hinüber, der auf den Schirm starrte, als hätte er ihn soeben zum erstenmal gesehen.
„Alles in Ordnung, Doktor?“
„Entschuldigen Sie, Kapitän — mir geht's gut. Ich habe mich nur eben an etwas Wichtiges erinnert, das ist alles.“
Und so war es wirklich. Zum tausendstenmal staunte er über die verschlungenen Wege, die das Unterbewußtsein nahm.
Eintrag 021 hatte es geschafft. „Die Lassaner haben keine ernsthaften Probleme.“
Jetzt wußte er, warum er vom Kilimandscharo geträumt hatte.
39. Der Leopard im Schnee
Entschuldige, Evelyn — es ist viele Tage her, seit ich zum letztenmal mit dir gesprochen habe. Bedeutet das, daß dein Bild in meinem Geist verblaßt, je mehr die Zukunft meine Energien und meine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt?
Vermutlich ist es so, und logischerweise sollte ich mich darüber freuen. Sich so lange an die Vergangenheit zu klammern ist eine Krankheit — was du mir oft gesagt hast. Aber in meinem Herzen kann ich diese bittere Wahrheit noch immer nicht akzeptieren.
In den letzten paar Wochen ist viel geschehen. Das Schiff wurde vom Bounty-Syndrom befallen, wie ich es nenne. Wir hätten darauf gefaßt sein müssen — ja, wir waren es sogar, aber nur im Scherz. Jetzt ist es Ernst, aber bisher nicht zu ernst — hoffentlich.
Einige von der Besatzung möchten gerne auf Thalassa bleiben — wer kann es ihnen verübeln? — und haben das offen zugegeben. Andere wollen die ganze Mission hier beenden und Sagan Zwei vergessen. Wir wissen nicht, wie stark diese Gruppe ist, weil sie bisher nicht an die Öffentlichkeit getreten ist.
Achtundvierzig Stunden nach der Ratsversammlung hatten wir das Abstimmungsergebnis. Obwohl die Stimmabgabe natürlich geheim war, weiß ich nicht, inwieweit man den Ergebnissen trauen kann. 151 waren für die Fortsetzung der Reise; nur 6 wollten die Mission hier beenden; und 4 waren unentschieden.
Kapitän Bey war zufrieden. Er glaubt, die Situation unter Kontrolle zu haben, will aber einige Vorsichtsmaßnahmen treffen. Er weiß genau, je länger wir hierbleiben, desto größer wird der Druck werden, überhaupt nicht mehr fortzugehen. Ein paar Deserteure stören ihn nicht weiter — „Wenn sie gehen wollen, will ich sie bestimmt nicht halten“, wie er es ausgedrückt hat. Aber er befürchtet, daß die Unzufriedenheit auf den Rest der Besatzung übergreifen könnte.
Deshalb will er den Bau des Schilds beschleunigen. Nachdem das System jetzt völlig automatisiert ist und reibungslos läuft, planen wir, zwei Eisblöcke pro Tag nach oben zu befördern, anstatt nur einen. Wenn das klappt, können wir in vier Monaten aufbrechen. Es ist noch nicht bekanntgegeben worden. Hoffentlich gibt es keine Proteste, wenn es verkündet wird, weder von den Neu-Lassanern, noch von sonst jemandem.
Und nun noch eine Sache, die vielleicht völlig unwichtig ist, die ich aber faszinierend finde. Weißt du noch, wie wir einander Geschichten vorlasen, als wir uns kennenlernten? Es war eine großartige Methode, in Erfahrung zu bringen, wie die Menschen vor Tausenden von Jahren — lange, bevor Sensoroder auch nur Videoaufzeichnungen existierten — wirklich lebten und dachten…
Einmal hast du mir — ich hatte nicht die leiseste, bewußte Erinnerung daran — eine Geschichte über einen großen Berg in Afrika mit dem seltsamen Namen ‚Kilimandscharo‘ vorgelesen. Ich habe im Schiffsarchiv nachgesehen, und jetzt verstehe ich, warum der Name mich verfolgt hat.
Offenbar gab es hoch oben auf dem Berg, oberhalb der Schneegrenze, eine Höhle. Und in dieser Höhle lag der gefrorene Kadaver einer großen Raubkatze — eines Leoparden. Das ist das Rätsel: niemand erfuhr jemals, was der Leopard in dieser Höhle, so weit von seinem normalen Aufenthaltsgebiet entfernt, gewollt hatte.
Du weißt, Evelyn, ich war immer stolz — viele Leute sagten eitel! — auf meine Intuition. Nun, mir scheint, daß hier etwas Ähnliches im Gange ist. Nicht nur einmal, sondern mehrmals hat man ein großes, starkes Meerestier entdeckt, weit entfernt von seinem natürlichen Lebensraum. Vor kurzem wurde das erste gefangen; es ist so etwas wie ein riesiges Krustentier, ähnlich den Meeresskorpionen, die einst auf der Erde lebten.
Wir wissen nicht genau, ob diese Tiere intelligent sind, und vielleicht ist diese Frage sogar bedeutungslos. Aber sicher sind sie hochorganisierte, im Gesellschaftsverband lebende Tiere, die über primitive Technikkenntnisse — obwohl das vielleicht ein zu starkes Wort ist — verfügen. Soviel wir festgestellt haben, sind ihre Fähigkeiten nicht größer als die von Bienen, Ameisen oder Termiten, aber ihre Tätigkeiten spielen sich auf einer anderen und ziemlich eindrucksvollen Ebene ab.
Am wichtigsten ist, daß sie das Metall entdeckt haben, obwohl sie es bisher offenbar nur als Schmuck verwenden und nur so viel Nachschub bekommen, wie sie von den Lassanern stehlen können. Das haben sie schon mehrmals getan.
Und vor kurzem ist ein Skorp durch den Kanal mitten in unsere Gefrieranlage gekrochen. Die naive Annahme lautet, er habe nach Nahrung gesucht. Aber da, wo er herkam, aus mindestens fünfzig Kilometer Entfernung, gab es genug.
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