„Einverstanden“, sagte Kapitän Bey prompt; das hatte er sich ja eigentlich erhofft. „Und wer wird die Anträge vorbringen? Wir können nicht erwarten, daß die Neu-Thalassaner an die Öffentlichkeit gehen, um ihre Sache zu vertreten.“
„Ich wünschte, wir könnten direkt abstimmen, ohne Streitgespräche und Diskussionen“, hatte Vizekapitän Malina gejammert.
Insgeheim stimmte ihm Kapitän Bey zu. Aber er hatte es hier mit einer demokratischen Gesellschaft aus verantwortungsbewußten, hochgebildeten Menschen zu tun, und die Schiffsordnung erkannte diese Tatsache an. Die Neu-Thalassaner hatten um eine Ratsversammlung gebeten, um ihre Ansichten darzulegen; wenn er das ablehnte, handelte er seinem eigenen Anstellungsvertrag zuwider und verletzte das Vertrauen, das man ihm vor zweihundert Jahren auf der Erde entgegengebracht hatte.
Es war nicht leicht gewesen, die Versammlung zu arrangieren. Da jeder ohne Ausnahme eine Chance zur Abstimmung bekommen mußte, mußten Termine und Dienstpläne geändert und Schlafzeiten unterbrochen werden. Die Tatsache, daß die Hälfte der Besatzung unten auf Thalassa war, stellte ein weiteres Problem dar, das noch nie vorher aufgetreten war — das der Sicherheit. Wie immer die Debatte ausgehen mochte, es war höchst unerwünscht, daß die Lassaner mithörten.
Und so saß Loren Lorenson allein in seinem Büro in Tarna und hatte, zum erstenmal, soweit er sich erinnern konnte, die Tür abgeschlossen, als die Ratsversammlung begann. Wieder trug er eine Vollsicht-Brille; aber diesmal trieb er nicht durch einen unterseeischen Wald. Er befand sich an Bord der ‚Magellan‘, im vertrauten Sitzungssaal, und schaute in die Gesichter von Kollegen und, wenn er seinen Blickwinkel wechselte, auf den Bildschirm, auf dem ihre Äußerungen und ihr Votum erscheinen würden. Im Augenblick war darauf eine kurze Botschaft zu sehen:
BESCHLUSS: Das Sternenschiff ‚Magellan‘ möge seine Mission auf Thalassa beenden, da alle seine wichtigsten Ziele hier erreicht werden können.
Moses ist also oben auf dem Schiff, dachte Loren, als er über das Publikum hinblickte; ich habe mich schon gefragt, warum ich ihn in letzter Zeit nicht gesehen habe. Er sieht müde aus — und der Kapitän auch. Vielleicht ist die Sache ernster, als ich gedacht hätte.
Kaldor verschaffte sich mit energischem Klopfen Aufmerksamkeit.
„Kapitän, Offiziere, Besatzungsmitglieder — obwohl dies unsere erste Ratsversammlung ist, kennen Sie alle die Verfahrensregeln. Wenn Sie sprechen möchten, heben Sie die Hand, bis Sie aufgerufen werden. Wenn Sie eine schriftliche Stellungnahme abgeben wollen, tun Sie das mit Ihrem Tastenblock; die Adressen wurden verschlüsselt, um die Anonymität zu gewährleisten. In jedem Fall fassen Sie sich bitte so kurz wie möglich.
Wenn es keine Fragen gibt, fangen wir mit Punkt Null Null Eins an.“
Die Neu-Thalassaner hatten noch ein paar Argumente hinzugefügt, aber im wesentlichen war 001 immer noch das Memorandum, das Kapitän Bey vor zwei Wochen so erschüttert hatte — er hatte in dieser Zeit bei der Ermittlung seiner Urheber nicht die geringsten Fortschritte gemacht.
Vielleicht der aufschlußreichste Zusatzpunkt war die Behauptung, daß es ihre Pflicht sei, hierzubleiben; Lassa brauche sie, in technischer, kultureller und genetischer Hinsicht. Ich weiß nicht recht, dachte Loren, obwohl er versucht war, dem beizustimmen. Auf jeden Fall sollten wir die Lassaner erst um ihre Meinung fragen. Wir sind doch keine Imperialisten alten Stils — oder etwa doch?
Jeder hatte Zeit gehabt, das Memorandum noch einmal zu lesen; Kaldor klopfte wieder, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
„Niemand hat… ah… um Genehmigung nachgesucht, zugunsten der Resolution sprechen zu dürfen; natürlich wird es dazu später noch Gelegenheit geben. Deshalb möchte ich jetzt Leutnant Elgar bitten, die Gegenargumente vorzutragen.“
Raymond Elgar war ein nachdenklicher, junger Ingenieur für Energieund Nachrichtentechnik, den Loren nur flüchtig kannte. Er war musikalisch begabt und behauptete, an einem epischen Gedicht über die Reise zu schreiben. Wenn man ihn aufforderte, auch nur einen einzigen Vers daraus vorzutragen, erwiderte er jedesmal: „Wartet bis Sagan Zwei plus ein Jahr.“
Es war offensichtlich, warum sich Leutnant Elgar freiwillig (wenn es wirklich freiwillig war) für diese Rolle gemeldet hatte. Seine dichterischen Ansprüche ließen ihm kaum eine andere Wahl. Und vielleicht arbeitete er wirklich an diesem Epos.
„Kapitän — Schiffsgenossen — leiht mir euer Ohr…“
Das ist eine bemerkenswerte Wendung, dachte Loren. Ob sie wohl von ihm stammt?
„Ich glaube, wir sind uns, im Herzen wie mit dem Verstand, alle einig, daß der Gedanke, auf Thalassa zu bleiben, sehr viel Anziehungskraft besitzt. Aber bedenkt auch folgende Punkte:
Wir sind nur 161. Haben wir das Recht, für die Million Menschen, die noch schlafen, eine unwiderrufliche Entscheidung zu treffen?
Und was ist mit den Lassanern? Es wird behauptet, wir würden ihnen helfen, wenn wir hierblieben. Aber stimmt das auch? Sie haben eine Lebensweise gefunden, die ihnen offenbar vollkommen zusagt. Bedenken Sie unsere Herkunft, unsere Ausbildung — das Ziel, dem wir uns vor Jahren verschrieben haben. Glauben Sie wirklich, eine Million von uns könnten Teil der lassanischen Gesellschaft werden, ohne sie völlig auseinanderzureißen?
Und dann ist da die Frage der Pflicht. Generationen von Männern und Frauen haben sich geopfert, um diese Mission möglich zu machen — um der menschlichen Rasse eine bessere Überlebenschance zu geben. Je mehr Sonnen wir erreichen, desto besser sichern wir uns gegen Katastrophen ab. Wir haben gesehen, wozu die thalassanischen Vulkane fähig sind; wer weiß, was in den kommenden Jahrhunderten hier geschehen mag?
Es wurde so leichthin von tektonischen Veränderungstechniken gesprochen, mit denen man Neuland schaffen könne, um Raum für die vergrößerte Bevölkerung zu gewinnen. Darf ich daran erinnern, daß das nicht einmal auf der Erde, nach Jahrtausenden von Forschung und Entwicklung, eine exakte Wissenschaft war? Erinnern Sie sich an die Katastrophe auf der Nazca-Platte im Jahre 3175! Ich kann mir nichts Tollkühneres vorstellen, als mit den Kräften herumzuspielen, die innerhalb von Thalassa aufgestaut sind.
Mehr braucht nicht gesagt zu werden. Es kann in dieser Frage nur eine Entscheidung geben. Wir müssen die Lassaner ihrem eigenen Schicksal überlassen; wir müssen weiter nach Sagan Zwei.“
Loren war über den langsam anschwellenden Beifall nicht überrascht. Die interessante Frage war, wer hatte sich nicht daran beteiligt? Soweit er es beurteilen konnte, waren die Zuhörer in zwei fast gleiche Teile gespalten. Natürlich mochten einige auch applaudieren, weil sie die sehr wirkungsvolle Darstellung bewunderten — nicht unbedingt, weil sie dem Sprecher zustimmten.
„Vielen Dank, Leutnant Elgar“, sagte Kaldor, der Vorsitzende. „Wir wissen besonders Ihre Kürze zu schätzen. Möchte nun jemand die Gegenmeinung vertreten?“
Eine gewisse Unruhe entstand, dann trat tiefe Stille ein. Mindestens eine Minute lang geschah nichts, dann erschienen auf dem Schirm Buchstaben.
002 WÜRDE DER KAPITÄN BITTE DIE LETZTE SCHÄTZUNG ÜBER DEN WAHRSCHEINLICHEN ERFOLG DER MISSION BEKANNTGEBEN.
003 WARUM WECKEN WIR NICHT EINE REPRÄSENTATIVE GRUPPE DER SCHLÄFER AUF, DAMIT SIE IHRE MEINUNG ABGEBEN KÖNNEN?
004 WARUM FRAGEN WIR NICHT DIE LASSANER, WAS SIE DAVON HALTEN. ES IST IHRE WELT?
Unter völliger Geheimhaltung und Neutralität speicherte und bezifferte der Computer die Eingaben der Ratsmitglieder. In zweitausend Jahren hatte niemand eine bessere Möglichkeit erfunden, Meinungen stichprobenartig zu erfassen und eine Mehrheitsentscheidung zu erzielen.
Überall auf dem Schiff — und unten auf Thalassa — tippten Männer und Frauen auf den sieben Knöpfen ihrer kleinen Einhandtastenblöcke Botschaften ein. Es war vielleicht die Fähigkeit, die sich jedes Kind als erste aneignete, alle notwendigen Kombinationen blind zu tippen, ohne auch nur darüber nachdenken zu müssen.
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