Anders als seine Schwester lebte Kumar in der Welt des unmittelbaren Erlebens; ihm waren nur das Hier und Heute auf Thalassa wichtig. „Wie ich ihn beneide!“ hatte Kaldor einmal bemerkt. „Er ist ein Wesen von heute — nicht von der Vergangenheit heimgesucht und ohne Angst vor der Zukunft.“
An dem Abend, der, wie er hoffte, sein letzter in der Klinik sein würde, wollte sich Loren gerade schlafenlegen, als Kumar mit einer sehr großen Flasche ankam und sie triumphierend hochhielt. „Rate!“
„Ich habe keine Ahnung“, sagte Loren, absolut nicht wahrheitsgemäß.
„Der erste Wein des Jahres, von Krakan. Man sagt, es würde ein sehr gutes Jahr.“
„Wieso verstehst du denn etwas davon?“
„Unsere Familie hat seit mehr als hundert Jahren einen Weinberg dort. Die Löwen-Weine sind die berühmtesten auf der Welt.“
Kumar suchte so lange, bis er zwei Gläser gefunden hatte, dann schenkte er beide großzügig voll. Loren nippte vorsichtig; der Wein war ein wenig süß für seinen Geschmack, aber sehr, sehr lieblich.
„Wie nennt ihr ihn?“ fragte er.
„Krakan Spezial.“
„Soll ich das riskieren, nachdem Krakan mich schon einmal fast getötet hätte?“
„Du wirst nicht einmal einen Kater davon bekommen.“
Loren nahm einen zweiten, größeren Schluck, und in überraschend kurzer Zeit war das Glas leer. Noch schneller war es wieder voll.
Loren fand, das sei eine ausgezeichnete Art, seine letzte Nacht im Krankenhaus zu verbringen, und er merkte, wie seine normale Dankbarkeit gegenüber Kumar sich auf die ganze Welt ausdehnte. Jetzt wäre ihm sogar ein Besuch von Bürgermeisterin Waldron nicht unwillkommen gewesen.
„Übrigens, wie geht es Brant? Ich habe ihn seit einer Woche nicht mehr gesehen.“
„Er ist immer noch auf der Nordinsel, kümmert sich um die Reparaturen am Boot und redet mit den Meeresbiologen. Alle sind sehr aufgeregt wegen der Skorps. Aber niemand kann sich entscheiden, was man unternehmen soll. Wenn überhaupt.“
„Weißt du, so etwa geht es mir mit Brant.“
Kumar lachte.
„Keine Sorge. Er hat ein Mädchen auf der Nordinsel.“
„Oh. Weiß Mirissa davon?“
„Natürlich.“
„Und es macht ihr nichts aus?“
„Warum denn? Brant liebt sie — und er kommt immer wieder zurück.“
Loren verarbeitete diese Information, aber ziemlich langsam. Es ging ihm auf, daß er eine neue Variable in einer ohnehin schon komplexen Gleichung war. Hatte Mirissa noch weitere Liebhaber? Wollte er es wirklich wissen? Sollte er danach fragen?
„Jedenfalls“, fuhr Kumar fort, während er die beiden Gläser nachfüllte, „ist nur eines wirklich wichtig, daß nämlich ihre Genkarten genehmigt worden sind und daß sie für einen Sohn eingetragen wurden. Wenn er geboren ist, wird alles anders sein. Dann brauchen sie nur noch einander. War das auf der Erde nicht genauso?“
„Manchmal“, sagte Loren. Kumar weiß es also nicht; nur sie beide kannten immer noch allein das Geheimnis.
Wenigstens werde ich meinen Sohn sehen, dachte Loren, wenn auch nur ein paar Monate lang. Und dann…
Zu seinem Entsetzen spürte er, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen. Wann hatte er zum letztenmal geweint? Vor zweihundert Jahren, als er auf die brennende Erde zurückschaute…
„Was ist los?“ fragte Kumar. „Denkst du an deine Frau?“ Seine Besorgnis war so echt, daß Loren ihm seine Taktlosigkeit nicht übelnehmen konnte — auch nicht, daß er an etwas rührte, wovon in beiderseitigem Einvernehmen selten gesprochen wurde, weil es mit dem Hier und Jetzt nichts zu tun hatte. Vor zweihundert Jahren auf der Erde und in dreihundert Jahren auf Sagan Zwei, beides war zu weit weg von Thalassa, als daß seine Gefühle es hätten erfassen können, noch dazu in seinem gegenwärtigen, etwas benebelten Zustand. „Nein, Kumar, ich habe nicht an — meine Frau…“ „Wirst du ihr… jemals… von Mirissa… erzählen?“ „Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin sehr schläfrig. Haben wir die ganze Flasche ausgetrunken? Kumar? Kumar!“
Die Krankenschwester kam in der Nacht herein, verbiß sich ein Kichern und steckte die Laken so fest, daß die beiden nicht herausfielen.
Loren erwachte als erster. Nach dem ersten Schrekken der Erkenntnis begann er zu lachen.
„Was ist so komisch?“ fragte Kumar und wälzte sich ziemlich verschlafen aus dem Bett.
„Wenn du es wirklich wissen willst — ich habe mich gerade gefragt, ob Mirissa wohl eifersüchtig wäre.“
Kumar grinste ironisch.
„Ich war vielleicht ein wenig betrunken“, sagte er dann. „Aber ich bin ziemlich sicher, daß nichts passiert ist.“
„Ich auch.“
Aber er erkannte, daß er Kumar liebte — nicht, weil der ihm das Leben gerettet hatte oder weil er Mirissas Bruder war — sondern einfach, weil er Kumar war. Sex hatte damit absolut nichts zu tun; allein der Gedanke daran hätte sie beide nicht etwa in Verlegenheit gebracht, sondern erheitert. Das war auch gut so. Das Leben auf Tarna war schon kompliziert genug.
„Und du hattest recht“, fügte Loren hinzu, „mit dem Krakan Spezial. Ich habe keinen Kater. Ich fühle mich sogar großartig. Kannst du ein paar Flaschen davon zum Schiff hinaufschicken lassen? Noch besser — ein paar hundert Liter.“
Es war eine einfache Frage, aber es gab keine einfache Antwort darauf: Was würde aus der Disziplin an Bord der ‚Magellan‘ werden, wenn das Ziel der Schiffsmission zum Gegenstand einer Abstimmung wurde?
Natürlich würde das Ergebnis nicht bindend sein, und er konnte es, wenn nötig, aufheben. Das würde er sogar müssen, wenn die Mehrheit sich dafür entscheiden sollte, hierzubleiben (nicht, daß er auch nur einen Augenblick lang dachte). Aber ein solcher Ausgang wäre psychologisch verheerend. Die Mannschaft wäre in zwei Parteien gespalten, und das konnte zu Situationen führen, die er sich lieber nicht vorstellen wollte.
Und doch — ein Kommandant mußte fest, durfte aber nicht stur sein. Der Vorschlag hatte durchaus vernünftige Seiten, und er hatte viele anziehende Aspekte. Schließlich hatte er selbst die Gastfreundschaft des Präsidenten genossen und wollte diese weiblichen Meister im Zehnkampf unbedingt wiedersehen. Diese Welt hier war schön; vielleicht konnte man den langsamen Prozeß des Kontinentalaufbaus, beschleunigen, so daß es Platz für die zusätzlichen Millionen gab. Das wäre unendlich viel einfacher, als Sagan Zwei zu kolonisieren.
Außerdem würden sie Sagan Zwei vielleicht nie erreichen. Obwohl die Zuverlässigkeit der Schiffsfunktionen immer noch auf achtundneunzig Prozent geschätzt wurde, gab es Gefahren von außen, die niemand vorhersehen konnte. Nur ein paar seiner engsten Vertrauten unter den Offizieren wußten von dem Abschnitt des Eisschilds, der irgendwo um das Lichtjahr achtundvierzig herum verlorengegangen war. Wenn jener interstellare Meteorit oder was immer es gewesen war, damals nur ein paar Meter nähergekommen wäre…
Jemand hatte gemeint, das Ding sei vielleicht eine alte Raumsonde von der Erde gewesen. Die Chancen standen in buchstäblich astronomischer Höhe dagegen, und natürlich konnte man eine solch ironische Hypothese niemals beweisen.
Und jetzt nannten sich seine unbekannten Bittsteller die ‚Neu-Thalassaner‘. Sollte das heißen, fragte sich Bey, daß es viele waren, und daß sie im Begriff standen, sich zu einer politischen Bewegung zu organisieren? Wenn dem so war, wäre es vielleicht das Beste, sie so bald wie möglich ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.
Ja, es war Zeit, den Schiffsrat einzuberufen.
Moses Kaldors Absage war schnell und höflich gekommen. „Nein, Kapitän; ich kann mich nicht in die Debatte einmischen — weder dafür, noch dagegen. Wenn ich das täte, hätte die Besatzung kein Vertrauen mehr zu meiner Unparteilichkeit. Aber ich bin bereit, als Vorsitzender zu fungieren, oder als Moderator — wie immer Sie es nennen möchten.“
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