Jede Biegung des breiter werdenden Flußes barg neue Überraschungen. Immer wieder verstummten ihre Gespräche, weil sie atemlos vor Spannung darauf warteten, was ihnen nun wohl geboten würde. Zeitweise verbreiterte sich der Flußlauf zu kleinen Seen, in denen Hunderte von Seerosen blühten. Jetzt sahen sie, wie die Pflanze, die Sonnenberg gepreßt und getrocknet hatte, in lebendem Zustand aussah: weiß, schneeweiß.
»Ist sie das?« fragte Claudia, und Tobias nickte grinsend.
»Ich nehm’s an«, sagte er.
»Schön!«
»Ja, wunderschön«, stimmte Micha ihr zu.
Der Käfer und die Seerose, damit hatte alles angefangen.
Den seltsamen Baum sah zuerst keiner. Ohne daß sie es bemerkten, wäre das Floß fast daran vorbeigetrieben. Alle starrten gerade auf die andere Flußseite, weil sich dort im Blätterdach irgend etwas gerührt hatte. Claudia war die erste, die sich wieder umdrehte.
»Huch, guckt euch das mal an!«
Aus größerer Entfernung sah es so aus, als wüchsen an den ausladenden Ästen des Baumes große, wie weiße Wattebäusche aussehende Blütenstände. Aber aus der Nähe war eindeutig zu erkennen, daß dieses Weiße etwas war, das die eigentlichen Blüten verhüllte.
»Sieht aus wie der Gardinenstoff meiner Oma«, sagte Tobias und griff nach einem der rätselhaften Gebilde, als sie das Floß dorthin manövriert hatten. Ein kleines genähtes Säckchen aus feinem Gazestoff war über die Astspitze gestülpt worden. Darunter befand sich ein klebriger verfaulter Blütenstand.
»Kann mir mal einer erklären, was das hier darstellen soll?« fragte Tobias und hielt das verschmutzte Stoffsäckchen in die Höhe.
Claudia und Micha zuckten nur mit den Schultern. Pencil knurrte.
Kurz danach begann es wieder zu regnen. Sturzbäche ergossen sich aus schier unerschöpflichen Quellen, und die vorsichtige Begeisterung über den eozänen Dschungel ließ auf Seiten der drei Floßschiffer rasch wieder nach. Nach zwei Stunden, in denen es ununterbrochen geregnet hatte und sie sich nur unter größten Schwierigkeiten vorangetastet hatten, waren sie zur Umkehr entschlossen. In dem Unwetter sah die ganze Welt aus, als hätte sie eine Art schwerwiegende Bildstörung. Es war dunkel, der Wind kam in Böen, die ihnen die warmen schweren Tropfen ins Gesicht peitschten, und immer, wenn sie glaubten, der Regen könne nun nicht mehr stärker werden, öffneten sich irgendwo neue Schleusen, wurde das Prasseln lauter, bedrohlicher, nahm die Dichte der Tropfen ihnen fast die Luft zum Atmen.
Der Fluß schwoll an. Sie sahen nicht viel und konnten die beiden Ufer durch den dichten Regenvorhang nur noch schemenhaft wahrnehmen. Aber sie spürten deutlich, wie die Strömung, gegen die sie ankämpfen mußten, von Minute zu Minute stärker wurde. Sie kamen kaum noch voran.
Als er sich gerade mit aller Kraft dagegen stemmte, brach plötzlich Michas Stange. Er stürzte der Länge nach auf den Floßboden, riß auch Claudia um, die direkt neben ihm stand, und im nächsten Moment wurde ihr Gefährt schon von der Strömung mitgerissen. Tobias schrie auf und klammerte sich an die Ruderpinne. Es begann eine rasante, an Geschwindigkeit stetig zunehmende Fahrt durch die verschlungenen Wasserstraßen des Waldes. Sie waren nur noch ein Spielball des abfließenden Wassers, die Flutwelle schob sie vor sich her, zusammen mit einer immer größer werdenden Masse an Laub und Ästen und einigen verzweifelt rudernden Tieren. Sie stießen gegen Baumstämme und Felsen, wurden heftig durchgeschüttelt und hin und her geworfen, begannen sich langsam zu drehen. Es hatte keinen Zweck dagegen anzukämpfen. Alles, was sie tun konnten, war, sich mit aller Kraft an den Stricken festzuhalten, mit denen die Baumstämme aneinander befestigt waren, darauf zu vertrauen, daß sie das primitive Floß trotz allem noch zusammenhielten, und zu hoffen, daß sie irgendwie heil durchkamen. Tobias versuchte verzweifelt, die Stellung zu halten und ihrer rasenden Fahrt mit dem Ruderblatt so etwas wie eine Richtung zu geben.
Erst, als der Regen etwas nachließ und das Floß auf einer breiten Wasserfläche zur Ruhe kam, rappelten sie sich langsam wieder auf. Zuerst hatten sie Angst, völlig die Orientierung verloren zu haben. Aber dann folgte eine Überraschung. Es hatte den Anschein, als dulde dieser Wald sie nicht länger unter seinem Blätterdach, als wolle er sie so schnell wie möglich wieder loswerden. Wie einen widerlichen Fremdkörper hatte der Dschungel sie wieder ausgespuckt, aus seinen unergründlichen Tiefen hervorgewürgt wie unbekömmlichen Ballast.
Ein paar hundert Meter weiter öffnete sich der Wald und in der vom Regen dampfenden Luft konnten sie wieder die Weite der Savanne erahnen.
Fußspuren
»Ich glaub es einfach nicht! Das ist doch nicht möglich«, rief Axt unwillkürlich aus und setzte schnell den schweren Rucksack ab. Schon die letzten Kilometer, die er am Flußufer entlanggelaufen war, waren ihm wie ein wunderbarer Garten Eden erschienen, aber für das hier fehlten ihm einfach die Worte. Mit heruntergeklapptem Unterkiefer kauerte er sich hinter einen Felsen und spähte zum anderen Flußufer hinüber.
Diese Tiere hier anzutreffen, verblüffte ihn ungemein. Es widersprach allem, was man über sie wußte. Die beiden massigen Platybelodons, eine spezielle Art der Schaufelzähner, schienen ihn nicht bemerkt zu haben, jedenfalls machten sie ihrem Namen alle Ehre und schaufelten seelenruhig weiter Unmengen von Wasserpflanzen in sich hinein. Und er kannte diese Pflanzen.
Er müßte sich schon sehr täuschen, wenn die Seerosen, die da drüben in dichten Teppichen auf dem Wasser schwammen, keine Barclaya waren, dieselben Seerosengewächse also, deren fossile Überreste sie im Ölschiefer von Messel gefunden hatten.
Erst jetzt wurde ihm bewußt, wo er sich befand, was mit ihm geschehen war, nachdem er Sonnenbergs Höhle durchquert hatte. Die letzten Tage waren wie im Rausch an ihm vorübergeglitten. Immer nur den einen Gedanken im Kopf, daß er sich beeilen mußte, wenn er die Katastrophe verhindern wollte, daß er keine Zeit verlieren durfte, daß es auf jede Minute ankam, hatte er sich kaum eine Pause gegönnt. Seit Tagen waren seine Augen ausschließlich starr nach vorne gerichtet. Daß es schon zu spät sein könnte, daß das Unheil vielleicht schon lange seinen Lauf genommen hatte, versuchte er zu verdrängen. Mit seinem Faltboot und dem kleinen Außenbordmotor, dessen lautes Geknatter ihn die letzten Tage begleitet hatte, war er über die Meeresbucht und den Fluß mit seinem braunen Wasser gerast.
Aber erst auf der anderen Seite des Bergzuges, in den letzten Stunden im Schatten dieses herrlichen Galeriewaldes mit seinem bunten Leben und angesichts dieser urzeitlichen Riesen in der flachen Bucht gegenüber, explodierte die ungeheuerliche Erkenntnis seines Hierseins mit der Wucht einer Granate. Fast verzweifelt suchte er nach einem Weg, das alles irgendwie zu verarbeiten. Am liebsten hätte er »Moment mal!« gerufen, eine Auszeit genommen, den Film für ein paar Minuten angehalten, wäre hinaus in die Küche oder auf die Terrasse gegangen, um sich eine kurze Atempause zu verschaffen. Aber das hier war kein Film.
Die Euphorie, die ihn überkam, ließ seine Haut prickeln, als bade er in sprudelndem Mineralwasser, und sein Gesicht glühte wie nach zwei doppelten Whiskys.
All das hier lebte. Es lebte!
Und als wollte ihm diese Welt noch einen weiteren Beweis ihrer Existenz liefern, hörte er ein lautes, durchdringendes Trompeten, und wenig später erschien hinter einer Baumgruppe eine kleine Herde gewaltiger Dinotherien, eine weitere Elefantenart, die hier und jetzt, ginge es nach den Erkenntnissen der Wissenschaft, eigentlich nichts zu suchen hatte. Es war überwältigend, mit welcher Eleganz und Leichtigkeit die riesigen Tiere sich fortbewegten. Mit weichen, federnden Schritten liefen sie auf das Ufer zu.
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