»Ist uns recht«, erwiderte Ortega, aber seine Stimme klang ein wenig beunruhigt.
Der Marsch die Avenue entlang war ohne Zwischenfall verlaufen. Sie gingen alle dorthin, wohin sie wollten, und jeder dachte an seine eigenen Interessen, wie der Ulik richtig vorhergesagt hatte. Die vier Mitglieder von Brazils Gruppe blieben für sich.
Als die Sonne heruntersank, standen sie an der Äquatorbarriere, die eindrucksvoll und scheinbar undurchdringlich war.
Sie sah wie eine halb durchscheinende Wand aus, die emporragte, bis sie mit dem dunkelblauen, wolkenlosen Himmel verschmolz. Die Wand selbst sah nicht dick aus und fühlte sich glatt und glasig an, hatte aber die Versuche vieler Rassen abgewiesen, ihr auch nur eine Schramme beizubringen. Sie reichte von Horizont zu Horizont, war eine riesige, nicht-spiegelnde Glaswand.
Die Avenue schien in ihr aufzugehen, und es gab kein Anzeichen für einen Riß oder auch nur eine kleine Fuge. Sie schienen eins zu werden.
Brazil drehte sich an der Wand um.
»Vor Mitternacht können wir nicht hinein«, sagte er. »Machen wir es uns bequem.«
»Meinen Sie vierundzwanzig Uhr?«fragte die echte Vardia.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Brazil. »Zum einen sind die Tage auf dieser Welt ungefähr achtundzwanzig ein viertel Stunden lang, so daß vierundzwanzig Uhr hier keine Bedeutung hat. Mitternacht bedeutet genau, was der Ausdruck sagt — die Mitte der Nacht. Da ein Tag genau 28,334 Standard-Stunden hat und die Achse genau senkrecht steht, beträgt die Tagesperiode 14,167 Stunden, ebenso die Nacht. Mitternacht ist also 7,0835 Stunden nach Sonnenuntergang.«
»Und wie bestimmen wir das?«fragte Der Rel. »Wir haben Zeitmesser, aber keine so exakten.«
»Nicht nötig«, erwiderte Brazil. »Hain, fliegen Sie hinauf zur Oberfläche und beobachten Sie die Sonne. Wenn Sie im Westen verschwindet, sagen Sie uns sofort Bescheid. Sieben Stunden danach achten wir auf unsere Uhren. Wir brauchen nur noch zu warten, bis die Wand sich öffnet. Wir haben nur etwa zwei Minuten, es ist also wichtig, daß alle sofort hindurchgehen. Wer es nicht tut, bleibt hier zurück.«
»Und die Atmosphäre?«fragte Skander. »Wir haben nur einige Druckanzüge.«
»Auch kein Problem«, erklärte Brazil. »Alle von uns vertragen die Sauerstoff-Stickstoff-Kohlenstoff-Mischung, die den Sektoren auf beiden Seiten der Avenue mehr oder weniger gemeinsam ist. Das System wird uns begleiten, wenn wir hinuntergehen. Es könnte nur unterschiedliche Schwerkraftlinien geben, aber das kann nicht mehr als Unbequemlichkeit verursachen.«
Sie setzten sich oder entspannten sich auf andere Weise, während sie auf den richtigen Zeitpunkt warteten.
* * *
»Bist du wirklich — wirklich ich?«sagte Vardia zögernd zu dem Slelcronier, der nur wegen einer kleinen Lampe am Sonnenblatt noch wach war.
Der Slelcronier dachte nach.
»Wir sind du, und wir sind mehr als du«, erwiderte er. »Alle deine Erinnerungen und Erfahrungen sind hier, zusammen mit den Millionen von uns.«
»Aber was tut ihr? Was ist der Sinn in eurem Leben?«
»Allgemeines Glück in stabiler Ordnung. Lange haben wir uns danach gesehnt, die Synthese verbreiten zu können. Durch diesen Körper und deine Erfahrung können wir nach Czill zurückkehren und uns vermehren. Wir werden uns überallhin ausdehnen, auf der ganzen Schacht-Welt und schließlich in alle Winkel des Universums.«
»Und wenn es euch bei den Tieren nicht gelingt?«
»Es wird gelingen, und wenn nicht, dann beseitigt das Überlegene einfach das Unterlegene, wie es seit Anbeginn der Zeit die Natur vorschreibt.«
Das bin nicht ich, dachte sie. Das kann ich nicht sein. Oder doch? Ist es nicht das, was meine eigene Gesellschaft erstrebt? Bedienen wir uns nicht deshalb des Klonens, damit alle gleich werden?
»Und was werdet Ihr tun, wenn ihr alles erreicht habt?«fragte sie plötzlich. »Was dann?«
»Dann werden Vollkommenheit, Harmonie und Frieden herrschen«, sagte der Slelcronier, als bete er eine Litanei herunter. »Der Himmel wird unser sein, und das auf ewig. Warum fragst du das? Sind wir nicht du?«
Sie wandte sich ab, und ihr Blick fiel auf Wu Julee und Brazil, die, wie immer, beieinander waren. Sie setzte sich auf den kalten Boden. Sie dachte wieder an den Slelcronier und seine Träume. Die vollkommene Gesellschaft. Der Himmel. Die Ewigkeit.
Die Markovier hatten all das besessen und es bewußt zerstört, zugunsten von Tod, Elend, Schmerz und Mühen auf zahllosen Welten in zahllosen Formen.
Was war überhaupt Vollkommenheit? Was fehlte den Markoviern, daß der große Traum sich als unwahr erwiesen hatte?
Sie hatten vergessen zu lieben, sagte Brazil. Aber was war Liebe?
Haben wir sie schon vergessen? dachte sie. Das beunruhigte sie, und zum erstenmal in ihrem Leben kam sie sich fremd, allein, verlassen vor.
Betrogen.
Und sie wußte nicht, was ihr fehlte.
Sie fror. Sie hatte noch nie so nachgedacht, nie vor sich hingebrütet, sich nie der kalten Wirklichkeit so rücksichtslos gestellt.
Wenn nun Nathan Brazil besaß, was tief innen fehlte — und sonst keiner?
Wuju setzte sich plötzlich zu ihr.
»Ich würde am liebsten nicht gehen«, sagte sie. »Wenn ich einen Wunsch hätte, dann den, daß es nie aufhört. Hier — diese Reise, Nathan, ihr alle. Es war die schönste Zeit meines Lebens. Wenn wir dort waren, wird nichts mehr so sein wie früher. Nichts.«
Vardia griff nach ihrer Hand und tätschelte sie. Warum habe ich das getan? fragte sie sich, aber sie hörte nicht auf.
»Ich weiß nicht, was geschehen wird«, meinte Vardia ruhig. »Ich weiß nur, daß ich mich verändern muß. Ich habe mich verändert. Jetzt muß ich begreifen, wie und warum.«
»Mir gefällt das gar nicht«, sagte Wuju dumpf. »Ich mag es nicht, wenn durch eine Laune alles verändert werden kann. Niemand sollte diese Macht haben — schon gar nicht diese Typen. Ich mag es nicht, eine Erfindung zu sein, ein verspäteter Gedanke. Ich habe furchtbare Angst. Ich habe es Nathan gesagt, aber er schüttelte nur den Kopf und ging weg. Das verstehe ich auch nicht. Ich kann mich jetzt dem Tod und dem Bösen stellen, aber nicht der Angst vor dem, was dort ist. Nicht allein.«
»Du bist nicht allein«, sagte Vardia mit einer Sanftheit, die sie tief verwunderte.
Wuju sah hinüber zu Brazil, der vor der Wand stand, unbewegt, stoisch, allein. Sie begann zu zittern.
»Ich kann das nicht allein«, klagte sie.
»Du bist nicht allein«, wiederholte Vardia und drückte ihre Hand fester.
Elkinos Skander betrachtete die beiden Frauen mit Interesse. Die Roboter haben also doch noch ein wenig Menschlichkeit bewahrt, dachte er befriedigt. Aber sie ist so tief verborgen in ihnen, daß es der Schacht-Welt bedurft hat, sie zutage zu fördern.
Und wozu?
Er blickte zu Hain hinüber.
»Sind Sie wach, Hain?«fragte er leise.
»Ja. Wer könnte jetzt schlafen?«
»Sagen Sie, Hain, was erhoffen Sie sich dort? Was erwarten Sie vom Schacht?«
»Macht«, sagte Hain nach einer Pause. »Ich würde Baron Azkfru zum Herrscher der Schacht-Welt, dieser Galaxis, vielleicht des Universums machen. Aber bei dem Haufen hier begnüge ich mich damit, daß er lange Zeit Herrscher in Akkafia sein wird. Mein Herr kann alles, nur nicht diese Maschine bekämpfen.«
»Aber was haben Sie davon?«fragte Skander erstaunt.
»Ich werde die Königin des Barons sein, neben seinem Thron sitzen, nur ihm an Macht nachstehen. Ich werde die Nachkommen austragen, die für immer herrschen werden.«Hain machte eine Pause. »Ich bin in einer verfallenen Hütte in einem Loch namens Gorind auf Aphrodite geboren«, fuhr sie fort. »Ich war unerwünscht und kränklich. Meine Mutter schlug mich und warf mich hinaus, als sie sah, daß ich nie Grubenarbeiter werden würde. Ich war neun Jahre alt. Ich ging in die Stadt, lebte vom Abfall, stahl, schlief in kalten Hauseingängen. Ich wuchs im Schatten der Reichen auf, die alles hatten. Mit fünfzehn Jahren vergewaltigte ich ein Mädchen und brachte es um. Man faßte mich und wollte mich zu einem programmierten Arbeiter ummodeln, als ein Mann in meine Zelle kam. Er sagte, er brauche Leute wie mich. Wenn ich ihm und seinen Auftraggebern dienen wolle, würde er mich befreien.«
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