Mavra trat hinaus und schloß lautlos die Tür. Auf ihrem Weg zum Bankettsaal begegnete sie niemandem. Dort gab es nur eine Kamera, wie sie beim Essen bemerkt hatte.
Sie näherte sich dem Eingang und starrte durch den Vorhang hinaus. Die Kamera, verbunden mit einem kleinen Lähmungsgerät, rotierte an einer Schiene unten an der Kuppel. Eine einzelne starre Kamera in der Kuppel selbst hätte nicht alles erfassen können, was der anderen innerhalb von dreißig Sekunden gelang. Mavra zählte mehrmals genau mit, um sich zu vergewissern, daß die Bewegungen zeitlich nicht variiert waren. Der Eingang befand sich nur zwölf Sekunden lang nicht im Kamerabereich, und er war ungefähr neunzig Meter entfernt.
Sie atmete zweimal tief ein. Als die Kamera den genau berechneten Punkt erreichte, raste sie zum Eingang und schaffte es in knapp unter elf Sekunden, etwas, das für ihre winzige Größe nahezu als unmöglich galt.
Aber hier herrschten nur 0,7 g.
Sie kletterte katzenartig zum Gebüsch hinunter. Draußen war es nicht dunkel, aber niemand war zu sehen, und sie war trotz des senkrechten Absturzes schnell.
Das lag an einem winzigen kleinen Bläschen, von dem sie mehrere in ihrem Gürtel trug. Das Bläschen, nicht größer als ein Stecknadelkopf, bildete eine unglaublich dünne Sekretion, die, wenn auf den Handflächen verrieben, ungeheure Saugkraft entwickelte. Bei Einbrüchen hatte ihr das unglaubliche Erfolge ermöglicht; sie hatte den Stoff selbst entwickelt.
In wenigen Sekunden stieg sie dreißig Meter hinunter, duckte sich hinter Gebüsch, rieb die Hände, wodurch der Stoff fest wurde, sich zu einer Kugel rollte und abfiel. Lange hielt er nicht, aber dreißig bis vierzig Sekunden lang war er hervorragend.
Sie hätte Dunkelheit vorgezogen, aber unter der spiegelnden Plasmakuppel gab es keine Dunkelheit.
Sie schlich um das Gebäude herum, hörte Stimmen und erstarrte. Als eine Art rhythmischer Gesang ertönte, wagte sie sich hinaus und schaute in einen der offenen Innenhöfe hinein. Vier Frauen, gekleidet wie die Dienerinnen, vollführten zur Begleitung eines leierartigen Instruments, das eine fünfte spielte, einen Tanz. Irgend etwas wirkte seltsam an ihnen.
Sie sind zu schön, entschied Mavra. Unglaublich schön, in ihren Geschlechtsmerkmalen beinahe deformiert, die Art von Traummädchen, von denen liebeskranke Prospektoren sich Bilder kaufen.
Sie schlüpfte ins nächste Gebäude, einem niedrigeren, aber immer noch großartigen Marmorbau, und prallte fast mit jemandem zusammen. Die junge Frau sah durchschnittlich aus, ein wenig zerzaust, und hatte schmutzige Füße. Sie war nackt, und neben ihr stand ein Eimer auf drei kleinen Rädern. Sie lag auf den Knien, und Mavra begriff plötzlich, daß die Frau den Marmorboden schrubbte.
Mavra schaute sich um, konnte aber sonst niemanden entdecken. Sie ging auf die Frau zu, die ihr das Hinterteil zuwandte, und streckte den rechten Kleinfinger aus, während sie die anderen ballte. Dadurch erreichte der kleine Injektor die Nagelspitze.
Die Frau bemerkte etwas, bevor Mavra sie erreichte. Als sie sich umdrehte, sah sie die kleine, schwarzgekleidete Frau.
»Hallo«, sagte sie mit schiefem Lächeln.
Mavra blickte sie mitleidig an. Der Ausdruck war schlicht, die Augen sahen stumpf und leer aus. Eine Schwammsüchtige, begriff Mavra. Sie bückte sich.
»Hallo. Wie heißen Sie?«
»Hiv — Hivi—«, stammelte die Frau.»Ich kann das nicht mehr so gut aussprechen.«
Mavra nickte mitfühlend.
»Okay, Hivi. Ich bin Cat. Wollen Sie mir etwas sagen?«
»Wenn ich kann.«
»Kennen Sie Nikki Zinder?«
»Kann mich an Namen nicht mehr so gut erinnern.«
»Gibt es dann hier irgendeinen Ort, wo Leute sind, die nie herauskommen?«
Die andere schüttelte verständnislos den Kopf. Mavra seufzte.
»Haben Sie einen Chef? Jemand, der Ihnen sagt, wo Sie putzen sollen?«
»Ziv macht das.«
»Und wo ist Ziv jetzt?«
»Da unten.«Sie deutete den Korridor hinunter.
Mavra hätte sie am liebsten in Frieden gelassen; eine Bedrohung war sie nicht. Aber ein gewisses Maß an Intelligenz war ihr noch geblieben, so daß sie ungewollt etwas verraten mochte. Sie streckte die Hand nach dem Mädchen aus, berührte mit dem rechten Kleinfinger ihren Arm, und der Injektor jagte ihr die Flüssigkeit unter die Haut.
Das Mädchen blickte erstaunt und griff nach der Schulter, dann erstarrte sie.
Mavra beugte sich herab.
»Du hast keinen gesehen«, flüsterte sie.»Du hast mich nicht gesehen. Du wirst mich nicht sehen. Du wirst nichts davon sehen, was ich mache. Jetzt arbeitest du weiter.«
Das Mädchen kam zu sich, schaute sich um, starrte Mavra Tschang an, blickte blind an ihr vorbei, zuckte mit den Schultern und begann weiterzuschrubben. Mavra entfernte sich.
Es wäre einfacher gewesen, sie zu töten, aber Mavra Tschang tötete nur jene, die es verdienten. Antor Trelig vielleicht für das, was er diesen früher normalen Menschen angetan hatte und anderen antun mochte — aber nicht eine hilflose Sklavin.
Denn das waren diese Frauen alle. Die Serviererinnen, die Tänzerin, die Putzfrau. Sklaven, geschaffen durch den Schwamm, durch zu geringe und zu hohe Dosen der Mutationskrankheit.
Mavra fand Ziv nicht, huschte aber lautlos durch viele Hallen, wich gelegentlich dumpf blickenden Sklavinnen und Abtastern aus.
Als sie niemanden fand, der Autorität zu besitzen schien, kehrte sie enttäuscht und angewidert zu den Schlafquartieren zurück. Als sie ihr Zimmer fast erreicht hatte, entdeckte sie jemanden, den sie brauchen konnte. Die Frau sah so ähnlich aus wie die anderen und war auch so angezogen, aber mit einem wesentlichen Unterschied: Sie trug Schulterhalfter und Pistole.
Mavra schlich lautlos auf sie zu, im letzten Augenblick drehte die Frau sich erschrocken um, und die kleine Agentin sprang sie an, traf sie mit voller Wucht in den Bauch.
Die Aufseherin lag am Boden, und Mavra sprang sofort wieder hoch. Die Nagelinjektoren vom rechten Zeige- und Mittelfinger hatten ihr Ziel gefunden, und die doppelte Dosis schwächte die Frau so stark, daß sie ihre Pistole nicht mehr ziehen konnte.
»Aufstehen!«befahl Mavra, und die Frau gehorchte.»Wo ist ein Raum, in dem wir nicht gestört werden?«
»Hier«, erwiderte die Aufseherin mechanisch und zeigte auf eine Tür in der Nähe.
»Keine Kameras oder andere Geräte?«
»Nein.«
Mavra trieb ihr halb betäubtes Opfer hinein. Es war ein kleines, derzeit unbenutztes Büro. Mavra drückte die Frau auf den Boden nieder und ging in die Knie.
»Wie heißt du?«fragte sie.
»Micce.«
»Also, Micce, wie viele Menschen gibt es auf Neu-Pompeii?«
»Zur Zeit einundvierzig, nicht gerechnet die Wilden, die lebenden Toten und die Gäste.«
»Wenn man alle bis auf die neuen Gäste mitzählt, wie viele?«
»Hundertsiebenunddreißig.«
Mavra nickte.
»Wie viele Bewaffnete?«
»Zwölf.«
»Warum nicht mehr?«
»In den wichtigen Bereichen verläßt man sich auf Automatiküberwachung. Und im übrigen kann niemand ohne die richtigen Codes Neu-Pompeii verlassen.«
»Wer kennt die Codes?«
»Nur Rat Trelig. Und sie werden täglich in einer Folge, die nur er kennt, gewechselt.«
Mavra Tschang zog die Brauen zusammen. Um so schwerer würde es werden.
»Ist Nikki Zinder hier?«fragte sie.
Die Frau nickte.
»Im Aufseherquartier.«
Durch weitere Fragen erfuhr Mavra, wo sich das Quartier befand, wie es dort aussah, wer sich zu verschiedenen Zeiten dort aufhielt, wo Nikkis Zimmer lag, wie man hinein- und hinausgelangen konnte. Sie klärte ferner, daß bis auf Trelig selbst alle auf dem Asteroiden schwammsüchtig waren und der Stoff täglich durch ein computergesteuertes Schiff gebracht wurde, so daß niemand eine größere Menge beschaffen und sich gegen Trelig auflehnen konnte. Das war eine interessante Note. Der Schwamm wurde also mit einem kleinen Spähschiff gebracht, das im Notfall für vier Passagiere geeignet war. Die Beschreibung der Aufseherin ließ vermuten, daß es sich um einen Kreuzer der Serie 17 handelte, ein Fahrzeug, das Mavra gut kannte.
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