»Du hast Schreckliches durchlitten«, sagte der ältere Mann freundlich auf hebräisch.
Er nickte.
»Es waren einfach zu viele«, erwiderte er in derselben Sprache.
»Wir waren ein Stück zu weit weg«, gab der alte Mann zurück. Er seufzte. »Wir hörten die Schreie, kamen aber zu spät und waren vielleicht zu vorsichtig.«Er warf einen Blick auf die toten Römer. »Es ist nur Rache«, murmelte er, wie zu sich selbst, »aber dafür erscheint es einfach nicht ausreichend.«Er sah den Befreiten an. »Hast du Verwandte, zu denen man dich bringen kann?«
Er schüttelte den Kopf.
»Alles, was ich hatte, liegt dort«, murmelte er. »Ich bin wieder allein auf der Welt.«
»Du bist jung und tapfer und geschickt«, sagte der alte Mann. »Du verdienst eine neue Chance. Komm! Ich bin ein Mann von Vermögen. Ich bin Mattathias, der Sohn von Johannes, ein Priester der Söhne Joaribs, jetzt von Modin. Das sind meine Söhne — Joannan Caddis, Simon Thassi, Eleasar Avaran und Jonathan Apphus auf den römischen Listen.«
»Mein Name und meine Familie sind mit ihnen gestorben«, sagte er traurig. »Ich bin mit ihnen gestorben.«
»Dann sollst du mein Sohn sein«, erklärte Mattathias. »Du sollst der Sohn werden, der ihr ältester Bruder war, aber vor so langer Zeit in der Wildnis starb.«Er wandte sich an seine Söhne. »Was sagt Ihr?«
»Er ist ein tapferer Mann, der viel verloren hat«, sagte einer. »Und sein Geist und sein Glaube werden in diesen schwierigen Zeiten sehr gebraucht.«Die anderen nickten.
»Jeder Krieger, von so kleinem Wuchs wie du, der römische Panzer durchdringen kann, trägt große Leidenschaft und die Salbung durch den Herrn in sich«, sagte ein anderer.
»Dann ist es abgemacht«, erklärte Mattathias zufrieden. »Du bist für mich wie ein Sohn. Willkommen in meinem Stamm und meinem Haus. Hinfort sollst du Judas Makkabäus heißen, mein verlorener Sohn, der in diesen Zeiten der Prüfung zu mir zurückgekehrt ist.«
Und sie knieten nieder und beteten gemeinsam darum, daß der Herr, Gott von Israel, dies annehme und es in der Tat SEIN Wille sei. Und als sie fertig waren, sah er zu ihnen allen auf und sagte:»Vielleicht könnten wir mit eurem Glauben und eurer Vaterlandsliebe den mächtigen Antiochus selbst überwinden!«
* * *
Nathan Brazil wurde wach.
Sein Kopf fühlte sich an, als wolle er platzen; er konnte nur stöhnen, und die Mediziner kamen mit Schmerzmitteln, um ihm zu helfen. Er konnte endlich die Augen zusammenführen und versuchte, sich aufzusetzen. Mit leisem Ächzen sank er wieder zurück.
»Na, ich sehe, die ganze Bande ist da«, murmelte er.
»Wie fühlen Sie sich?«fragte Mavra besorgt.
Er lachte mühsam.
»Na ja, wie jeder, der mitten in einer Explosion gestanden hat, sich einen Tag später fühlt.«
»Was ist dort… drinnen mit Ihnen geschehen?«fragte Marquoz. »Erinnern Sie sich an etwas?«
Brazil schnitt eine Grimasse, nicht vor Schmerzen, sondern weil er sich erinnerte.
»Wollte Gott, es wäre nicht so! Obie hat wirklich keine Witze gemacht — der menschliche Geist ist ein Land der Phantasie, dazu bestimmt, sich zu täuschen, indem er jeweils den Standpunkt einnimmt, mit dem am leichtesten zu leben ist. Könnt ihr euch vorstellen, daß ihr plötzlich euch selbst gegenübersteht — eurem wahren Ich — ohne euch irgendwo verstecken zu können? Selbst Obie begreift nicht, was er mir Entsetzliches angetan hat, die grauenhafte Qual, die er mir zugefügt hat. Ich glaube nicht, daß er es hätte tun können, wenn er es gewußt hätte. Ist euch klar, daß wir — alle wir Nicht-Maschinen — verrückt sind? Völlig wahnsinnig? Kein Wunder, daß die Markovier das Gefühl hatten, Utopia nicht erreicht zu haben — sie schafften es wirklich nicht. Geistig mit ihren Ungeheuern von Computern verbunden, meine ich, müssen sie viel von dem mitgemacht haben, was mir zugestoßen ist. Sie waren gezwungen, sich selbst zu betrachten, ohne jeden Ausweg. Was für eine schreckliche Enttäuschung muß das gewesen sein! Mein Gott! Kein Wunder! Das erklärt alles: den Schacht, warum sie ihr großes Experiment anstellten, weshalb sie so bereitwillig Selbstmord begingen — und warum sie auch diesmal scheiterten. Wir — wir alle — nach ihrem Bild erschaffen, ja, aber auch Spiegelungen ihrer dunklen Seite. Mein Gott!«
»Aber sind Sie nicht dabeigewesen?«fragte Mavra verwirrt. »Sie sind doch ein Markovier — oder nicht?«
Er lachte trocken, dann stöhnte er ein wenig, weil es weh tat.
»Nein, kein Markovier. Etwas… anderes. Keine Sorge. Ich kann ihre hübsche Maschine reparieren.«Dann verfiel er wieder in einen Monolog. »Mein Gott! Kein Wunder, daß der Schacht kein Bewußtsein seiner selbst hat. Das hätten sie nicht ausgehalten…«
»Obie — ist Obie tot?«fragte Mavra angstvoll.
»Ich — ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Nein, ich bin sicher, daß er nicht tot ist. Aber er ist — nun, jetzt kann er uns nicht helfen, vielleicht nicht auf absehbare Zukunft. Sehen Sie, für Obie ist das ganze Universum und alles in ihm streng logisch und mathematisch. Das ist es, was wir für ihn sind, Reihen von Zahlen, Beziehungen, die aufgehen. Ich gehe nicht auf. Ich bin nicht Teil irgendeiner Mathematik, die er versteht, und er besitzt nicht den Schlüssel, um meine ›Formel‹ zu verstehen, ist dazu getrieben, mich aufzunehmen, und dazu braucht er den Schlüssel. Aber den kann er nicht bekommen, bis er mich aufnimmt. Er muß das Problem lösen und kann es nicht lösen, bis er es gelöst hat. Er sitzt fest. In gewisser Weise könnte man wohl sagen, daß ich ihn zum Wahnsinn getrieben habe.«
»Und Sie?«warf Marquoz ein. »Er glaubte, Sie könnten ihn zum Wahnsinn treiben, und trotzdem drohte er damit, Sie in die Vernunft zu treiben. Hat er es getan?«
Brazil lachte wieder leise in sich hinein.
»Der Geist ist widerstandsfähig, Marquoz. Ich bin vermutlich vernünftiger, als jedes andere Lebewesen es je gewesen ist, vermutlich vernünftiger, als die Markovier es nach ihrem geistigen Anschluß an ihre Computer waren, und trotzdem bin ich ganz wahnsinnig und rutschte um so mehr in den Wahnsinn hinein, je mehr ich nachdenke. Wenn man vor dem Undenkbaren steht, zieht man sich zurück, man schiebt es weg, in Winkel seines Gehirns, die man nicht erreichen kann.«
»Leider glaube ich, daß ich Sie verstehen kann«, erklärte der Chugach. »Außer für Sie ist dieser Happen Metaphysik indessen von geringem Belang. Die Frage, die auf dem Tisch liegt, ist schlicht die: Haben Sie Ihre Einstellung, was die Reparatur des Schachtes der Seelen betrifft, geändert?«
Nathan Brazil seufzte.
»Eine Nebenerscheinung des geistigen Anschlusses ist, daß man sich an Dinge erinnert, die man nie im Gedächtnis haben wollte. Das Schlimmste dabei ist, je mehr man von diesen Erinnerungen hochzieht, desto mehr begreift man, wie sinnlos alles ist. Rom stieg empor, aber seine eigenen Methoden führten dazu, daß das Reich von innen zerfiel. Ich frage mich, ob das nicht auch für die Markovier gilt. Werden wir alles von vorne noch einmal machen, sogar wieder an eben diesen Punkt gelangen? Ist die ganze Sache ›Leben‹ dazu verurteilt, das Scheitern zu wiederholen, weil mit den Experimentatoren etwas nicht stimmt? Ich frage mich…«
»Aber werden Sie den Schacht reparieren?«drängte der kleine Drache.
Brazil nickte bedrückt.
»Ich werde, wenn es möglich ist, zum Schacht gehen. Ich werde eintreten und dastehen und das Problem analysieren. Aber ich werde nicht die Verantwortung dafür übernehmen, so viele zu ermorden. Ich kann die Verantwortung nicht mehr übernehmen.«Er drehte sich ein wenig zur Seite und sah sie an. Sein Blick richtete sich auf Mavra Tschang. Er deutete auf sie. » Sie werden die Verantwortung übernehmen«, sagte er zu ihr. »Wenn ich im Schacht stehe, werden Sie dabei sein. Ich werde Sie bitten, mir den Befehl zu erteilen. Sie werden mich anweisen, dem Universum den Rest zu geben.«Er sank zurück und verlor wieder das Bewußtsein, aber die Instrumente zeigten diesmal an, daß das eher ein normaler Schlaf war.
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