Aber Doc ging bereits auf den Thunderbird zu. Er setzte sich ans Steuer, hupte einmal, um den Weg frei zu machen, und fuhr dann zügig durch die schräge Mulde, ohne mehr als wenige Zentimeter zur Seite zu rutschen. Dann stieg er aus dem Wagen und rief: »Alles aussteigen — jetzt ist der Bus dran!«
Pop, der Busfahrer, kam heran, um Einwände zu erheben. »Die Hinterreifen sind völlig abgefahren«, protestierte er. »Wenn der Karren durch das Loch muß, rutscht er bestimmt zur Seite und ...«
Doc kümmerte sich gar nicht um ihn, sondern ging zurück, bestieg den Bus und fuhr ihn auf die andere Seite. Pop hatte recht gehabt — die Reifen rutschten tatsächlich ein gutes Stück.
Nachdem alle Fahrzeuge das Hindernis überwunden hatten bestimmte Doc die Reihenfolge, in der gefahren werden sollte. »Rama Joan, Ann und ich sitzen in dem Thunderbird, der die Spitze übernimmt. Dann kommt die Limousine, hinter ihr der Bus und schließlich der Lieferwagen. Alle mit zehn Meter Abstand! Sie fahren die Limousine, Ross. Margo, Sie behalten die Pistole und bleiben bei ihm. Sie sind unsere schwere Artillerie, falls wir in Schwierigkeiten kommen, aber warten Sie auf Befehle von mir. McHeath, Sie behalten Doddsys Gewehr und beobachten von dem Lieferwagen aus nach rückwärts.
Wenn ich dreimal hupe, heißt das langsamer! Viermal bedeutet halt! Und fünfmal heißt, daß irgend jemand von uns Schwierigkeiten hat. Verstanden? Okay, dann fahren wir!«
Paul Hagbolt betrachtete Nordeuropa aus tausend Kilometer Höhe. Die Sichtverhältnisse waren ausgezeichnet, aber über dem Atlantik kroch eine Regenfront auf Irland zu.
Unmittelbar unter ihm lag die Nordsee, die aus dieser Höhe täuschende Ähnlichkeit mit einer Seite aus einem Atlas hatte. Das Wasser war bleifarben und glitzerte nur in der Straße von Dover, denn dort schien jetzt die Sonne.
Die Britischen Inseln, die südliche Hälfte von Skandinavien, Norddeutschland und die Niederlande bildeten drei weitere Atlasseiten, die vor Paul ausgebreitet lagen. Zunächst hatte er die Szene vor seinen Augen gespannt beobachtet, aber allmählich war der Reiz des Neuen verflogen. Jetzt empfand Paul nur noch Mitleid, wenn er an die Bevölkerung der weiten Landstriche dachte, die von der Nordsee überflutet worden waren. Er sah zu Tigerishka hinüber, aber sie kümmerte sich nicht um ihn, sondern setzte ihre Beobachtungen fort.
Vor zwei Stunden hatte sie ihn von der Fessel an seinem Fuß befreit und ihm erklärt, wie er sich im schwerelosen Zustand zu bewegen hätte. Dann hatte sie ihre Tätigkeit wiederaufgenommen, ohne sich weiter mit Paul zu befassen, der die Mahlzeit einnahm, die sie ihm vorgesetzt hatte — ein Dutzend Proteinpillen und ein Glas Wasser. Die Pillen lagen ihm noch immer schwer im Magen.
»Machst du dir Sorgen wegen der Erde?« fragte Tigerishka plötzlich. »Ich habe dir doch geschildert, was wir alles unternehmen, um eure geliebten Städte zu retten.«
»Retten?« wiederholte Paul ungläubig. »Ja, aber erst, nachdem Millionen von Menschen umgekommen sind — und ich weiß nicht einmal, ob die Rettung nicht schlimmer als die Katastrophe ist! Tigerishka, wie habt ihr es nur über euch gebracht, unsere Welt zu zerstören, nur um schneller zu Treibstoff zu kommen? Wovor habt ihr so schreckliche Angst, daß euch unser Schicksal völlig gleichgültig ist?«
»Davon will ich nichts mehr hören, Paul!« fauchte Tigerishka. »Ich habe dich schon einmal gewarnt!«
Die kleine Fahrzeugkolonne aus Sportwagen, Limousine, Schulbus und Lieferwagen hielt auf dem höchsten Punkt des letzten Hügels an, bevor die Straße ins Tal hinabfiel. Doc, Rama Joan, Hunter, Margo, der kleine Mann und die anderen standen um den Thunderbird herum und starrten ungläubig auf die Autobahn hinab, die sich durch das Tal zog. Dort unten standen in beiden Richtungen Stoßstange an Stoßstange unzählige Autos in einer einzigen riesigen Schlange, die bis zum Horizont reichte. Doc hatte einen Feldstecher vor den Augen und schilderte, was er beobachtete — Hunderte von Jugendlichen, die von Wagen zu Wagen zogen, grölend Schnapsflaschen schwenkten und jeden bedrohten, der sie aufzuhalten versuchte; ein halbes Dutzend Streifenwagen der Polizei, die am Straßenrand zu einem Halbkreis aufgefahren waren; Auseinandersetzungen zwischen Halbstarken auf der einen und Polizisten und Familienvätern auf der anderen Seite; sinnlose Zerstörungen, fröhlich tanzende Jugendliche, die eine Jazzband zusammengestellt hatten, eine Gruppe, die sich an die Streifenwagen anschlich ...
»Aber bevor dort unten der große Kampf beginnt, sind wir bereits nach Mulholland unterwegs«, schloß Doc seinen Bericht. Er gab Rama Joan das Fernglas zurück und drehte sich um. »Doddsy! McHeath! Pop und Hixon sollen ihre Fahrzeuge wenden — hier ist Platz genug — und ...«
»Soll das heißen, daß wir weglaufen?« erkundigte Hixon sich. »Wir können doch nicht stillschweigend zusehen, wie dort unten harmlose Leute terrorisiert werden! Mit der Schwerkraftpistole ...«
»Nein!« antwortete Doc fest. »Wir müssen vor allem dafür sorgen, daß die Pistole in die Hände qualifizierter Wissenschaftler kommt — solange sie noch Ladung enthält. Wieviel ist noch drin, Margo?«
»Ungefähr ein Drittel«, erklärte sie.
»Sehen Sie?« fuhr Doc zu Hixon gewendet fort. »Das sind bestenfalls vier oder fünf Schüsse, mit denen wir gegen die Verrückten dort unten bestimmt nichts ausrichten. Wir dürfen uns nicht einmischen — das wäre nur ein Eimer Wasser auf ein brennendes Haus. Nein, wir fahren zurück! Hixon, Sie ...«
»Augenblick, Doc!« warf Margo ein. »Das dort drüben ist Vandenberg drei.« Sie zeigte mit der Pistole auf eine Gruppe von Gebäuden jenseits der Autobahn. »Vielleicht hält Morton Opperly sich noch dort auf. Das müssen wir nachprüfen.«
»Ausgeschlossen!« protestierte Doc. »Opperly ist bestimmt schon längst evakuiert worden. Nein!«
»Aber wir wissen es nicht sicher«, antwortete Margo ebenso fest. Sie zeigte auf die Pistole. »Ich habe mir vorgenommen, sie Opperly zu zeigen — und wenn es sein muß, gehe ich zu Fuß hinunter.«
»Bravo!« rief Hixon.
»Gut, Miß Eisenherz, dann hören Sie mir zu«, sagte Doc. »Wenn Sie sich mit der Pistole dort hinunter wagen und dabei einen ... äh ... Unfall haben, bekommt Opperly die Pistole nie, weil sie dann in die Hände der Verrückten fällt. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag, Miß Gelhorn. Fahren Sie ohne die Pistole hinunter — ich gebe Ihnen meinen Revolver — und stellen Sie fest, ob Morton Opperly wirklich dort ist. Was halten Sie davon?«
Margo sah zu Hunter hinüber. »Fahren Sie mich?« Er nickte und ging auf die Limousine zu. Margo streckte Doc die Pistole entgegen. »Gut, ich tausche«, sagte sie dabei.
»Ich komme mit«, warf Hixon ein.
»Einverstanden?« fragte Doc Margo. Als sie nickte meinte er: »Okay, aber mehr können wir nicht entbehren. Keine Freiwilligen mehr!« rief er McHeath zu, der eifrig herangekommen war.
Hunter, Margo und Hixon kletterten in ihren Wagen Doc gab ihnen noch einige Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg, dann schoß die Limousine davon und verschwand um die erste Kurve.
Barbara Katz saß auf dem obersten Ast des riesigen Magnolienbaumes, ließ sich die Sonne auf den Rücken scheinen und starrte nach Osten, wo der Atlantik bald wieder aus Richtung Daytona Beach den nördlichsten Teil Floridas überfluten würde. Von Zeit zu Zeit warf sie auch einen kurzen Blick auf das alte Kalenderblatt, auf dem die Gezeitenabstände angegeben waren, obwohl sie wußte, daß sie kaum noch zutreffen würden. Aber die Flut hatte morgens um drei ihren höchsten Stand erreicht, so daß zu erwarten war, daß sie heute nachmittag wieder das Land überfluten würde. Die ersten Anzeichen dafür waren bereits sichtbar.
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