»Machen Sie keinen Unsinn, Paul«, antwortete Major Humphreys scharf. »Sie haben keine andere Wahl. Sie können doch nicht einfach desertieren!«
»Natürlich kann ich das!« brüllte Paul zurück.
Humphreys zuckte mit den Schultern und kletterte in den Jeep. Der Posten schloß die Tür des Wachtturms hinter sich und kam auf die Gruppe zu. »Los, verschwindet endlich, Leute!« sagte er nervös und hob die Mündung seiner Maschinenpistole. In der linken Hand hielt er eine Drahtschlaufe — die Steuerung des Treibsatzes auf seinem Rücken.
Alle wichen zurück — sogar Ragnarok, denn sein Besitzer hatte vor Aufregung die Leine losgelassen —, aber der kleine Mann blieb stehen und starrte aufgebracht durch den Stacheldraht.
»Major!« rief der kleine Mann laut. »Sie können sich darauf verlassen, daß ich mich über Ihr Verhalten beschweren werde! Ich bin schließlich Steuerzahler, Sir! Von meinem Geld werden Einrichtungen wie Vandenberg finanziert und Leute wie Sie besoldet! Wollen Sie Ihre Entscheidung nicht ...«
Der Posten kam auf ihn zu. »Halten Sie den Mund und verschwinden Sie!« schnauzte er den kleinen Mann an. Dann stieß er ihm die Mündung der Maschinenpistole leicht zwischen die Rippen.
In diesem Augenblick drängte Ragnarok sich heiser knurrend zwischen den Beinen der anderen durch und stürzte sich auf den Posten.
Der Soldat reagierte blitzschnell, zündete den Treibsatz und schwebte rückwärts durch die Luft. Dabei erwies er sich als hervorragender Schütze, denn er gab einen kurzen Feuerstoß aus seiner Maschinenpistole ab, der sein Ziel genau traf. Der große Schäferhund blieb bewegungslos liegen.
Die Gruppe stand wie erstarrt.
Der Posten segelte über den Zaun und setzte weich auf, wobei nochmals ein orangeroter Feuerstrahl aus der Düse auf seinem Rücken schoß.
Der kleine Mann kniete neben seinem Hund. »Ragnarok ist tot«, flüsterte er dann ungläubig.
Wojtowicz griff nach der Tragbahre und kam damit herbeigerannt.
»Ihm ist nicht mehr zu helfen«, murmelte der kleine Mann.
»Wir können ihn doch nicht einfach hier liegen lassen«, sagte Wojtowicz.
Sie hoben den toten Hund gemeinsam auf die Tragbahre. Margo drückte Paul Miau in den Arm, zog ihre Jacke aus und legte sie über Ragnarok. Der kleine Mann nickte wortlos.
Dann marschierte die Gruppe wieder den Weg zurück, den sie gekommen war. Das ungewisse Zwielicht vor Tagesanbruch wurde noch immer von dem Purpur und Rot des Wanderers beherrscht.
Harry McHeath zeigte plötzlich nach oben. »Da!« sagte er. »Ein weißer Schimmer. Der Mond kommt wieder zum Vorschein.«
Die Einwohner Neuseelands und Polynesiens rannten vor dem Abendessen auf die Straßen, um die Erscheinung am Himmel zu beobachten, die mit zunehmender Dunkelheit immer deutlicher sichtbar wurde. Viele von ihnen vermuteten der Wanderer sei in Wirklichkeit der Mond, der von amerikanischen oder sowjetischen Atomexplosionen deformiert worden sei. Aber die Mehrzahl der Bewohner Australiens, Asiens Afrikas und Europas ging noch immer ihrem gewohnten Tagewerk nach. Für sie war der Wanderer nur eine Zeitungsente oder bestenfalls ein typisch amerikanisches Phänomen, das in die gleiche Kategorie wie Senatoren, Filmstars, religiöse Sekten und Coca Cola gehörte. Nur wenige Wissenschaftler brachten die verrückten Meldungen über den Mond mit den ernsten Berichten in Verbindung, in denen von schweren Erdbebenschäden die Rede war.
Der Atlantik befand sich jetzt ebenfalls auf der Tagseite der Erde, aber hier verlief die Reaktion anders, denn die meisten Schiffe mit Kurs auf Europa oder Amerika hatten den Wanderer in den letzten Nachtstunden beobachtet. Die Kapitäne dieser Schiffe hörten nacheinander sämtliche Kurzwellenbänder ab und versuchten angestrengt, ihre Reedereien oder die Schiffahrtsbehörden zu erreichen, um sich weitere Anweisungen geben zu lassen. Einige Schiffe liefen die nächsten Häfen an, weil die Kapitäne glaubten, dort eher Unterstützung zu finden. Andere Kapitäne schienen jedoch bereits von düsteren Vorahnungen geplagt zu sein, denn sie änderten den Kurs ihrer Schiffe und steuerten auf die hohe See hinaus, was sich später als richtig erweisen sollte.
Paul Hagbolt mußte zugeben, daß der lange Marsch durch den Sand ermüdend war, obwohl er ihn in Gesellschaft neuer Freunde im Licht eines neuen Planeten unternahm. Die zuversichtliche Stimmung, aus der heraus er Major Humphreys' Vorschlag abgelehnt hatte, war rasch wieder verflogen. Jetzt fühlte er sich statt dessen müde und niedergeschlagen.
»Ein komisches Gefühl, nicht wahr?« fragte Rama Joan. »Sie haben sich von Ihren Beschützern losgesagt und Ihr Schicksal und das Ihres Mädchens mit dem eines Haufens Verrückter verknüpft — und das alles, um beim Begräbnis eines Hundes dabei sein zu können.«
Paul grinste unwillkürlich. »Sie irren sich«, antwortete er. »Margo ist nicht wirklich mein Mädchen. Wir sind nur gute Freunde.«
Rama Joan warf einen kurzen Blick auf die Tragbahre die Clarence Dodd und Wojtowicz trugen. »So?« meinte sie dann. »Man kann sein Leben aber auch mit einer Freundschaft vergeuden, Paul.«
Paul nickte unglücklich. »Das behauptet Margo auch«, gab er zu. »Sie meint, daß ich nur deshalb zufrieden bin, weil ich den edlen Ritter spielen kann, der auf sie aufpaßt, bis Don wieder zurück ist.«
»Vielleicht«, antwortete Rama Joan. Sie zuckte mit den Schultern. »Aber das Verhältnis zwischen Don, Margo und Ihnen ist nicht ganz natürlich.«
»In gewisser Beziehung ist es das doch«, versicherte Paul. »Wir kennen uns schon seit der Volksschule und sind immer unzertrennliche Freunde gewesen. Später stellte Margo fest, daß ihr Don lieber war als ich, deshalb verlobte sie sich mit ihm, bevor er zum Mond flog. Damit war vorläufig alles entschieden — aber vielleicht nur deshalb, weil unsere Gesellschaft nichts von Dreiecksverhältnissen hält.«
»Ich kann Ihnen sagen, weshalb ich hier bin«, fuhr die Rotblonde fort, als Paul schwieg. »Normalerweise würde ich in Manhattan als Frau eines erfolgreichen Werbemannes leben. Ann könnte auf eine vornehme Schule gehen, während ich selbst in der Frauenvereinigung eine gewisse Rolle spielen würde. Statt dessen bin ich geschieden, lebe recht und schlecht von Vorträgen und garniere den Mystizismus mit Karnevalskostümen.« Sie lachte spöttisch und zeigte auf ihren Abendanzug. »›Maskuliner Protest‹, behaupten meine Freunde. ›Nein, nur menschlicher Protest‹, antworte ich ihnen. Ich möchte alles sagen können, was ich denke, und ich möchte, daß Ann eine wirkliche Mutter hat — nicht nur eine elegant angezogene statistische Zahl.«
»Glauben Sie wirklich an das, was Sie sagen?« fragte Paul. »Buddhismus und so weiter?«
»Ich möchte gern mehr daran glauben und gebe mir große Mühe, es aufrichtig zu tun«, antwortete Rama Joan. »Vielleicht habe ich in dieser Beziehung gewisse Ähnlichkeit mit Charlie Fulby, dessen Planeten auch nur in seiner Phantasie und Intuition existieren.«
»Der Kerl ist paranoid«, murmelte Paul und sah nach vorn, wo der Ladestock zwischen Wanda und der hageren Frau marschierte. »Sind die beiden Frauen seine Schülerinnen oder Anhängerinnen?« erkundigte er sich dann.
»Ich glaube auch, daß er etwas paranoid ist«, gab Rama Joan zu. »Aber Sie sind doch nicht etwa der Meinung, daß nur die geistig Gesunden die Wahrheit erkennen können? Nein, ich glaube, er ist mit ihnen verheiratet — er gehört einer Sekte an, die Vielweiberei gestattet. Oh, Paul, Sie finden uns alle ziemlich seltsam, nicht wahr?«
»Nicht wirklich«, protestierte er. »Andererseits ist es natürlich beruhigend, auf der Seite der Mehrheit zu stehen.«
»Und auf der Seite, die Geld und Einfluß hat«, stimmte Rama Joan zu. »Aber trösten Sie sich — die Mehrheit und die Verrückten verbringen die meiste Zeit mit der gleichen Beschäftigung: der Befriedigung wichtiger Bedürfnisse. Wir marschieren alle zu dem Haus am Strand zurück, weil wir hoffen, daß es dort Kaffee und Sandwiches gibt.«
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