Ich dachte eine Weile darüber nach, worauf ich beschloß, den geraden Weg zu beschreiten. Ich bat um ein Gespräch mit Dekan James Faulkner und legte ihm alles offen dar. Ich sagte, ich hätte seit Jahren ScienceFiction-Geschichten geschrieben, und nun käme mein erstes Buch unter meinem eigenen Namen heraus, und meine Zugehörigkeit zur Fakultät würde im Klappentext erwähnt. Ob er meine Kündigung wolle?
Der Dekan, ein würdiger Herr mit Sinn für Humor, sagte: „Ist es ein gutes Buch?“
„Der Verlag ist der Meinung“, sagte ich vorsichtig.
Und er sagte: „In diesem Fall wird die medizinische Fakultät sich gern damit identifizieren lassen.“
Damit war der Fall erledigt, und solange ich der Fakultät angehörte, hatte ich niemals Schwierigkeiten wegen meiner Science Fiction. Einige Leute kamen sogar auf den Gedanken, mein schriftstellerisches Talent nutzbar zu machen. Im Oktober 1954 baten mich die
Herausgeber einer Studentenzeitung an der Universität um eine kleine SF-Geschichte zur Auflockerung einer ihrer Ausgaben. Ich tat ihnen den Gefallen mit LET’S NOT, einer Skizze, die dann im Dezember 1954 erschien.
Professor Charles Kittredge rannte mit langen, unsicheren Schritten. Er kam gerade rechtzeitig, um seinem Kollegen Heber Vandermeer das Glas von den Lippen zu schlagen. Es war beinahe wie eine Übung in Zeitlupe.
Vandermeer, der augenscheinlich so in sein Tun vertieft gewesen war, daß er Kittredge nicht hatte kommen hören, schaute erschrocken und beschämt drein. Sein Blick fiel auf das zerbrochene Glas und die kleine Pfütze Flüssigkeit zwischen den Scherben.
„Was war es?“ fragte Kittredge grimmig.
„Zyankali. Ich hatte ein bißchen aufbewahrt, als wir abreisten. Für alle Fälle ...“
„Was hätte das genützt? Und nun ist ein Glas zerschlagen. Die Scherben müssen zusammengekehrt werden ... Nein, ich werde es tun.“
Kittredge fand ein kostbares Stück Pappe zum Aufnehmen der Splitter und Scherben und ein noch kostbareres Stück Stoff zum Auftupfen der giftigen Flüssigkeit. Er ging und schüttete die Scherben - und mit Bedauern auch das Stück Stoff - in den Abfallbehälter, der in unregelmäßigen Abständen mit dem Aufzug achthundert Meter zur Oberfläche hinaufbefördert und ausgeleert wurde.
Als er zurückkehrte, sah er Vandermeer auf dem Feldbett sitzen, die Augen starr auf die Wand gerichtet.
Sein Haar war schneeweiß geworden, und natürlich hatte er Gewicht verloren. In der Zuflucht gab es keine dicken Menschen. Kittredge, der schon immer lang, mager und grauhaarig gewesen war, hatte sich, im Gegensatz zu seinem Kollegen, kaum verändert.
Nach einer Weile sagte Vandermeer mit lebloser Stimme: „Denke an die alten Tage, Kitt.“
„Ich versuche, es nicht zu tun.“
„Es ist das einzige Vergnügen, das uns geblieben ist“, fuhr Vandermeer fort. „Es gab Vorlesungsräume, Geräte, Studenten, Luft, Licht und Menschen. Leute.“
„Eine Schule ist eine Schule, solange es einen Lehrer und einen Schüler gibt.“
„Du hast beinahe recht“, murmelte Vandermeer traurig. „Hier gibt es sogar zwei Lehrer. Und einen Absolventen. Er wird der erste Mensch sein, der hier unten zum Doktor der Philosophie promovieren wird. Eine besondere Auszeichnung. Der arme Jones.“
Kittredge steckte die Hände in die Taschen, um sie ruhig zu halten. „Es gibt zwanzig weitere junge Leute, die eines Tages ein Studium abschließen werden.“
Vandermeer blickte müde auf. Sein Gesicht war grau und hoffnungslos. „Was sollen wir sie in der Zwischenzeit lehren? Geschichte? Wie der Mensch entdeckte, was den Wasserstoff zum Krachen bringt, und wie er froh und munter weiterspielte, bis es überall krachte? Geographie? Wir können beschreiben, wie der Wind den glitzernden Staub überall hin wehte und wie die Wasserströmungen die aufgelösten Isotope in alle Weltmeere trugen.“
Kittredge fand es sehr hart. Er und Vandermeer waren die einzigen qualifizierten Wissenschaftler, die rechtzeitig davongekommen waren. Die Verantwortung für das Leben von mehr als hundert Männern, Frauen und Kindern hatte sie bewegen, die unberechenbaren Gefahren und Unbilden der Oberfläche zu fliehen und hier in dieser Lebensblase Zuflucht zu suchen, achthundert Meter unter der Kruste des Planeten.
Verzweifelt suchte er Vandermeer neuen Mut zu machen. „Du weißt, was wir sie lehren müssen“, sagte er so eindringlich er konnte. „Wir müssen die Wissenschaft am Leben erhalten, damit wir eines Tages die Erde wiederbevölkern können. Damit es einen neuen Anfang geben kann.“
Vandermeer antwortete nicht. Er wandte das Gesicht zur Wand.
„Warum sollte das nicht möglich sein?“ sagte Kittredge. „Auch Radioaktivität währt nicht ewig. Laß es tausend Jahre dauern, oder meinetwegen fünftausend. Einmal wird die Strahlungsmenge auf der Erdoberfläche auf erträgliche Werte sinken.“
„Einmal.“
„Natürlich. Eines Tages. Siehst du nicht, daß hier die wichtigste Schule in der Geschichte der Menschheit existiert? Wenn wir Erfolg haben, du und ich, dann werden unsere Abkömmlinge wieder einen freien Himmel über sich sehen und reines Wasser aus murmelnden Bächen schöpfen.“ Er zeigte dem anderen ein schiefes Lächeln und fügte hinzu: „Vielleicht werden sie sogar Schulen wie jene besitzen, an die wir uns erinnern.“
„Ich kann nichts davon glauben“, sagte Vandermeer. „Zuerst, als es besser schien als der Tod, hätte ich alles geglaubt. Aber die Jahre gehen dahin, und es ergibt einfach keinen Sinn mehr. Wir lehren sie hier unten, was wir wissen, und dann sterben wir ... auch hier un ten.“
„Aber nicht lange, und Jones wird mit uns lehren, und dann wird es andere geben, welche die Fackel der Gelehrsamkeit weitertragen werden. Die Jungen, die sich kaum noch an das alte Leben erinnern, werden Lehrer, und ihnen werden die hier geborenen Jungen folgen. Das wird der kritische Punkt sein. Sobald die hier Geborenen die Leitung übernehmen, wird es keine Erinnerungen mehr geben, die die Moral untergraben. Dies wird ihr Leben sein, und sie werden ein Ziel haben, etwas, wofür sie kämpfen können... eine ganze Welt, die es wiederzugewinnen gilt. Wenn, Van, wenn wir die Kenntnis der Naturwissenschaften auf dem Doktorandenniveau am Leben erhalten können. Du verstehst, warum, nicht wahr?“
„Natürlich verstehe ich“, erwiderte Vandermeer reizbar, „aber das macht es noch nicht möglich.“
„Aber jedes Aufgeben wird es unmöglich machen. Soviel ist gewiß.“
„Gut, ich werd’s versuchen“, sagte Vandermeer im Flüsterton.
Kittredge legte sich auf sein Feldbett und schloß die Augen und wünschte sich verzweifelt, daß er in seinem Schutzanzug auf der Planetenoberfläche stünde. Nur für eine kleine Weile. Er würde kurz nach Sonnenuntergang neben dem Gerippe des Schiffes stehen, das demontiert und ausgeschlachtet worden war, um die Lebensblase hier unten zu schaffen. Und er würde seinen Mut zusammennehmen und, aufblickend durch die dünne, kalte Marsatmosphäre, noch einmal den strahlenden, toten Abendstern sehen, der die Erde war.
Manche Leute beschuldigten mich, daß ich alles, was ich schreibe, bis zum letzten ausquetsche. Tatsächlich ist das keine vorsätzliche Politik von mir, aber ich muß zugeben, daß die Nachdrucke und Neuauflagen sich zu summieren schienen. Das war schon 1954 so. Ich hatte LET’S NOT für eine Studentenzeitung an meiner Universität geschrieben und natürlich weder Geld dafür erwartet noch bekommen. Nicht lange danach bat mich Martin Greenberg von der Gnome Press jedoch um eine Einleitung für eine neue Anthologie, die er herausgeben wollte. Sie sollte den Titel ALL ABOUT THE FUTURE tragen und 1955 erscheinen.
Ich wollte nicht ablehnen, weil ich Martin Greenberg mochte, obwohl er mit seinen Tantiemenzahlungen Jahre im Rückstand war. Andererseits wollte ich ihn auch nicht mit mehr Material belohnen, also schloß ich einen Kompromiß.
Читать дальше