Es war nicht kalt, wenigstens nicht in dem Anzug. Einen Augenblick nur öffnete ich das Visier, klappte es aber blitzschnell wieder zu. Vierzig Grad unter Null hatte man mir gesagt – eine leere Zahl, bis meine Nase für den Bruchteil einer Sekunde mit der Realität in Berührung kam. Am Fuße des aufragenden Kunststoffpfannkuchens brauchte ich die Schneeschuhe noch nicht; meine Nagelschuhe knirschten im verharschten Schnee. Ich stellte mit Hilfe des kleinen Kreiselkompasses und der Karte die Richtung fest und stapfte schwerfällig durch die weiße Landschaft. Von Zeit zu Zeit drückte ich auf den Knopf des Peilgerätes an meinem linken Ärmel, und hörte ein fröhliches, beruhigendes »Piep-piep. Piep-piep. Piep-piep.«
Ich hielt die Richtung ein, indem ich Orientierungspunkte wählte und auf sie zuhielt; einen merkwürdig zurückgebogenen Eishügel zum Beispiel, oder einen blauen Schatten in einer Schneesenke. Das Peilgerät bestätigte die Richtigkeit meines Kurses. Ich war stolz darauf, daß ich die Wildnis meisterte, und nach zwei Stunden hatte ich plötzlich einen fürchterlichen Hunger.
Ich mußte mich niederkauern und eine Glocke aus Silikongewebe öffnen, in die ich genau hineinpaßte. Von Zeit zu Zeit steckte ich vorsichtig prüfend die Nase aus meinem Anzug, und nach fünf Minuten war es warm genug. Gierig verschlang ich ein selbsterhitztes Eintopfgericht und Tee und versuchte, eine Zigarette zu rauchen. Beim zweiten Zug war das kleine Zelt voller Rauch und mir standen Tränen in den Augen. Reumütig drückte ich die Zigarette an meinem Schuh aus, schloß die Gesichtsmaske, verstaute das Zelt und reckte mich zufrieden.
Nachdem ich mich noch einmal davon überzeugt hatte, daß die Richtung stimmte, machte ich mich wieder auf den Weg. Teufel auch, sagte ich zu mir. Diese Geschichte mit Runstead ist nur eine Frage des Temperaments. Er kann die offenen Flächen, das weite Land, einfach nicht sehen. Er meint es nicht böse. Er hält das Projekt für eine verrückte Idee, weil er nicht merkt, daß es Menschen gibt, die so etwas gut finden. Man muß es ihm nur erklären.
Dieses Argument, aus dem Gefühl des Wohlbehagens geboren, fiel bei der ersten Berührung mit der Vernunft in sich zusammen. Auch Runstead war auf dem Gletscher. Ganz sicher hatte er Sinn für Raum und Weite, wenn er sich unter allen Orten der Erde gerade den Starrzelius-Gletscher als Erholungsort auswählte. Nun, in Kürze würde die Begegnung stattfinden. »Piep-piep.«
Ich sah auf den Kompaß und peilte einen schwarzen Gegenstand an, der sich genau auf meinem Kurs befand. Ich konnte nicht richtig erkennen, was es war, aber es war deutlich sichtbar und bewegte sich nicht. Ich fiel in einen schlürfenden Laufschritt, kam ins Keuchen und verlangsamte gegen meinen Willen das Tempo. Es war ein Mensch. Als ich noch zwanzig Meter entfernt war, blickte der Mann ungeduldig auf die Uhr, und ich begann wieder unbeholfen zu laufen.
»Matt!« sagte ich, »Matt Runstead!«
»Ganz richtig, Mitch«, sagte er, unhöflich wie immer. »Sie sind ja heute schwer in Form.« Ich betrachtete ihn sehr eingehend und sehr gründlich, während ich mir meine Eröffnungsworte zurechtlegte. Er hatte die zusammengeklappten Skier neben sich in den Schnee gesteckt.
»Was ist – was ist…«, stotterte ich.
»Ich habe zwar viel Zeit«, sagte er, »aber Sie haben bereits zuviel davon verschwendet. Auf Wiedersehen, Mitch.«
Während ich verblüfft dastand, nahm er die Skier, schwang sie durch die Luft und versetzte mir einen Schlag damit. Ich fiel nach hinten über; Schmerz, Bestürzung und ohnmächtige Wut drohten meinen Kopf zu sprengen. Ich spürte, wie er an meiner Brust herumfingerte, dann fühlte ich eine ganze Weile überhaupt nichts mehr.
Als ich erwachte, glaubte ich, meine Decke sei fortgeglitten und fand es ziemlich kalt für den Frühherbst. Dann schnitt mir der eisblaue antarktische Himmel wie ein Messer in die Augen, und ich spürte den körnigen Schnee unter mir. Die Wirklichkeit hatte mich wieder. Mein Kopf schmerzte fürchterlich, und mir war kalt. Ich tastete nach dem Funkgerät und merkte, daß es verschwunden war. Anzug, Handschuhe und Stiefel waren ungeheizt. Das Peilgerät funktionierte nicht mehr. Es hatte keinen Sinn, den Griff des Notsignals zu ziehen. Ich taumelte auf die Füße; die Kälte packte mich wie ein Schraubstock. Im Schnee waren Fußstapfen, die von mir fortführten – wohin? Da war auch die Spur meiner Skier. Steif machte ich einen Schritt zurück entlang der Spur, dann noch einen und noch einen.
Die Verpflegung. Ich konnte sie in den Anzug werfen, das Hitzesiegel erbrechen und mich auf diese Weise vorübergehend erwärmen. Schritt für Schritt stapfte ich mühsam voran und überlegte: soll ich anhalten und ausruhen, während ich mich wärme, oder lieber weitergehen? Du brauchst eine Verschnaufpause, sagte ich mir. Etwas Unmögliches ist geschehen, dein Kopf schmerzt. Du wirst dich wohler fühlen, wenn du dich jetzt einen Augenblick setzst, ein oder zwei Rationen öffnest und dann weitergehst.
Ich setzte mich nicht nieder. Ich wußte, was das bedeuten würde; langsam und unbeholfen holte ich mit schmerzenden, klammen Fingern eine Coffiest-Dose aus der Tasche und schob sie in meinen Anzug. Die Finger gehorchten mir kaum. Mein Daumen schien nicht einmal mehr kräftig genug, um das Siegel zu erbrechen, und ich sagte mir: setz dich einen Augenblick und sammle deine Kräfte. Du brauchst dich ja gar nicht hinzulegen, so angenehm das auch wäre… mein Daumen löste das Siegel, die kribbelnde Hitze tat weh.
Die Landschaft verschwamm mir vor Augen. Ich öffnete weitere Dosen, dann konnte ich sie nicht mehr aus ihrer Verpackung lösen. Ich setzte mich schließlich doch und stand wieder auf. Dann setzte ich mich wieder voller Schuld und Scham über meine Verweichlichung und beschloß, in der nächsten Sekunde um Kathys willen aufzustehen, noch zwei Sekunden für Kathy, drei Sekunden für Kathy. Aber ich tat es nicht.
Ich legte mich auf einem Eisberg schlafen; ich erwachte in einem klopfenden, hämmernden Inferno, mit rotem Feuer und brutal aussehenden Teufeln. Genau dorthin hätte ich einen Texter von Taunton geschickt. Es verwirrte mich, daß statt dessen ich hier war.
Die Verwirrung hielt nicht lange an. Einer der Teufel rüttelte mich roh an der Schulter und sagte: »Los, pack an, Schlafmütze. Ich muß meine Hängematte unterbringen.« Mein Kopf wurde klar. Es stand eindeutig fest, daß er nichts anderes als ein Verbraucher der unteren Klasse war – vielleicht Krankenpfleger?
»Was ist das hier?« fragte ich. »Sind wir wieder in Klein-Amerika?«
»Mann, du machst vielleicht Witze«, sagte er. »Faß an, ja?«
»Keinesfalls!« sagte ich zu ihm. »Ich bin ein Texter der Starklasse.«
Er blickte mich mitleidig an, sagte »Idiot« und verschwand in der hämmernden, rotglühenden Dunkelheit.
Ich stand auf, schwankte und packte einen an mir vorbeieilenden Mann am Ellenbogen. »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Wo bin ich hier? Ist das ein Krankenhaus?«
Auch dieser Mann war ein einfacher Verbraucher, ebenso schlechtgelaunt wie der erste. »Laß meinen Arm los!« grunzte er. »Wenn du dich krankmelden willst, warte, bis wir an Land sind.«
»Land?«
»Ja. Land. Hör mal, Kumpel, weißt du nicht, wofür du dich verpflichtet hast?«
»Verpflichtet? Nein; weiß ich nicht. Aber Sie werden ein bißchen zu persönlich. Ich bin ein Texter der Starklasse.«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Aha«, sagte er wissend. »Da kann ich dir helfen. Sekunde, Kumpel. Bin gleich wieder da mit dem Zeug.«
Und er hielt Wort. »Das Zeug« war eine kleine grüne Kapsel. »Nur fünfhundert«, schwatzte er weiter. »Vielleicht die letzte an Bord. Kannst du wohl die Erschütterungen nicht ertragen, was? Das hier macht dich fit für die Landung.«
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