Gott segne den alten Zivilisten. Binnen eines Augenblicks hatte er die Kellnerin mit einer neuen Runde da, und das Gesicht des Whangpu-Matrosen entspannte sich, als er seine Nachfüllung bekam.
Ich war weit davon entfernt, nüchtern zu sein, aber nicht so weit, um nicht zu bemerken, daß Gert in schlechterer Verfassung war als ich. Ich unternahm eine Anstrengung, das Thema zu wechseln. »Also mögen Sie die Missionare, ja?« meinte ich herzlich zu unserem Wohltäter.
»Oh, veldammt gute Jungs, ja! Schulden ihnen viel gloße Menge.«
»Weil sie das Christentum nach China gebracht haben, meinen Sie?«
Er wirkte verblüfft. »Wieso Chlistentum? Für Chlistfest -Weihnachten, Wißt ihl, was Weihnachten bedeuten? Ich Ihnen sagen. Mein Geschäft - Gloßhandel mit Kleidelwalen allel Alt - Weihnachsvelkäufe bedeuten finfzig Plozent von Velkaufsvolumen jählich, beinahe finfundachtzig Plozent von Netto. Das Weihnachten bedeuten! Buddha, Mao, sie uns nie so etwas gegeben!«
Unglücklicherweise hatte er Gert wieder in Gang gesetzt. »Weihnachten«, sagte sie verträumt, »war nicht mehr so wie früher, nachdem Daddy gestorben war. Zum Glück hatte er ein altes Gewehr. Also fuhr ich raus zu den Müllabladeplätzen - wir wohnten damals in Baltimor, unten am Hafen - und schoß Seemöven und schmuggelte sie nach Hause. Natürlich waren sie nicht wie TruThan, aber Mutti...«
Ich verschüttete beinahe meinen Drink. »Gert«, rief ich, »ich glaube, wir gehen jetzt besser?« Aber es war zu spät.
»...Mutti bereitete diese Seemöven so zu, daß man hätte glauben können, sie wären ÄchtFlaisch, und wir aßen, bis uns schlecht wurde und...«
Sie führte es nie zu Ende. Der Whangpu-Matrose sprang auf, das Gesicht vor Zorn und Ekel arbeitend. Ich verstand die Worte nicht, die er sagte, aber die Bedeutung war klar genug. Tierfresser. Und dann brach die Hölle los.
Ich erinnere mich nicht mehr sehr deutlich an den Kampf, nur daran, wie die MPs hereinströmten, als ich mich zum zweiten Mal unter dem Tisch hervorzog. Adrenalin und Panik hatten viel von dem Schnaps aus mir herausgekocht, aber ich dachte, ich sei immer noch betrunken, halluzinatorisch betrunken. Delirium tremens-betrunken, als ich sah, wer sie anführte. »Ach, Frau Oberst Heckscher!« murmelte ich. »Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen.«
Und dann verlor ich das Bewußtsein.
Nun ja, es war auch eine Art, nach Hause zu kommen. Beinahe nach Hause. Bis Arizona jedenfalls. Dorthin ging Oberst Heckscher, und da wir immer noch nominell Mitglieder ihres Stabes waren, hatte sie keine Mühe, uns mit ihr zusammen für die Kriegsgerichtsverhandlung überstellen zu lassen.
Also wechselte ich von einer staubigen Wüste in eine andere. Es schien, als seien die Hälfte der Sturmtruppen von Urumqi bereits vor mir dort angekommen. Von meinem einsamen Zimmer in den Stabsoffiziersquartieren aus - Gert war im Militärgefängnis, aber da ich Offizier war, stand ich nur unter Hausarrest - konnte ich ihre Schaumstoffiglus sehen, die sich in ordentlichen Reihen bis zum Horizont erstreckten, und ganz am Rande des Lagers eine lange Reihe von Shuttles. Ich verbrachte nicht viel Zeit damit, sie mir anzuschauen. Den Großteil meiner Zeit verbrachte ich mit der Wehranwältin, die das Gericht zu meiner Verteidigung bestellt hatte. Verteidigung! Sie war höchstens zwanzig, und ihre Hauptreferenz war, daß sie in der Copyright & Warenzeichen-Abteilung einer unbedeutenden Houstoner Agentur gearbeitet hatte, während sie darauf wartete, zur Rechtsakademie zugelassen zu werden.
Aber ich hatte einen mächtigen Freund. Der chinesische Zivilist vergaß seine alten Saufkumpane nicht. Er weigerte sich, gegen uns auszusagen, und es schien, als hätte er die gesamte Whangpu-Flotte bestochen, denn als sie via Satellitenvideo zur persönlichen Aussage aufgerufen wurden, bezeugten sie allesamt, daß sie kein Englisch sprächen, nicht wüßten, was -wenn überhaupt etwas - Gert und ich gesagt hatten, ja, sich nicht einmal sicher wären, ob es sich bei uns um die Leute aus dem Westen handelte, die an jenem Abend in der Bar gewesen waren. Alles, wofür sie mich drankriegen konnten, war also ungebührliches Verhalten für einen Offizier, und das bedeutete nicht mehr als eine unehrenhafte Entlassung.
Es bedeutete aber auch nicht weniger. Dafür sorgte Oberst Heckscher. Aber ich hatte Glück. Gert Martels bekam die gleiche UE, aber da sie aus den Mannschaftsdienstgraden kam und Berufsunteroffizier war, hatten sie eine lange Akte über sie; und nur, um in ihrer Erinnerung die unehrenhafte Entlassung ein bißchen unangenehmer zu machen, gaben sie ihr zuerst sechzig Tage verschärften Arrest.
Als ich zu Taunton, Gatchweiler & Schocken ging, um zu fragen, ob ich meinen alten Job zurückhaben könnte, befürchtete ich, daß Val Dambois mich nicht einmal empfangen würde. Darin lag ich falsch. Er empfing mich. Er freute sich sogar. Er lachte während des ganzen Gesprächs. »Sie armer Narr«, sagte er, »Sie ames, zitterndes, demoralisiertes Wrack. Was läßt Sie glauben, daß wir Pedicab-Strampler dringend genug brauchen, um Sie zu nehmen?«
Ich sagte: »Mein Kündigungsschutz...«
»Ihr Kündigungsschutz, Tarb«, sagte er vergnüglich, »ist mit Ihrer unehrenhaften Entlassung erloschen. Aufgrund einer schwerwiegenden Verfehlung, wie es juristisch heißt. Verschwinden Sie. Oder noch besser, bringen Sie sich um.« Und als ich die dreiundvierzig Treppenfluchten zum Hinterausgang hinuntermarschierte - Dambois hatte es nicht für angebracht gehalten, mir einen Liftpaß auszustellen -, fragte ich mich, wie lange es dauern würde, bis das eine logische Möglichkeit war.
Es gab manches, was dafür sprach, daß es genau das war, was ich jetzt schon tat, denn bei meiner abschließenden Entlassungsuntersuchung aus der Armee hatte die Ärztin ihre Skalen und Meßgeräte mit zunehmend besorgtem Blick abgelesen, bis sie schließlich mit einem Knopfdruck meine Entlassungspapiere auf den Schirm holte und sah, daß ich ein UE war. »Na ja«, meinte sie daraufhin, »ich nehme an, es ist wohl egal. Aber ich würde sagen, Sie sind auf dem besten Wege zu einem vollständigen körperlichen und seelischen Zusammenbruch innerhalb der nächsten sechs Monate.« Und sie schrieb in großen roten Buchstaben über die lange Liste meiner verfallenden körperlichen Eigenschaften "Nicht dienstbedingt", so daß sich wahrscheinlich nicht einmal die Veteranenbehörde dafür interessieren würde, was aus Tennison Tarb wurde. Würde Mitzi das? Mein Stolz hielt mich davon ab, zu fragen - fünf Tage lang. Dann schickte ich ihr eine Nachricht, heiter und positiv, wie war's mit einem Drink um der alten Zeiten willen? Die beantwortete sie nicht. Sie beantwortete auch nicht die wenigen heiteren und alles andere als positiven Nachrichten des zehnten Tages, des zwölften, des fünfzehnten...
Tennison Tarb hatte keine Freunde mehr, schien es.
Tennison Tarb hatte auch nicht mehr gerade besonders viel Geld. Unehrenhafte Entlassung schloß den Verlust aller Bezüge und gewährten Zuwendungen ein, was unter anderem bedeutete, daß alle meine Barrechnungen aus dem Offizierskasino in Urumqi an ein Inkassobüro weitergeleitet wurden. Die übrige Welt hatte vergessen, daß ich am Leben war, aber die Kniebrecher hatten keine Schwierigkeiten, mich und das, was von meinem Bankkonto noch übriggeblieben war, aufzuspüren. Als sie mit dem Schuldenbetrag plus Zinsen plus Inkassogebühren plus Steuern - plus Trinkgeld! - denn sie erklärten, daß die Kunden den Eintreibern immer Trinkgeld gaben, und sie schwenkten ihre Hartgummiknüppel, während sie das erklärten -, wieder weggingen, war auch in finanzieller Hinsicht von Tennison Tarb nicht viel mehr übrig als sonst auch.
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