Die Kirche war so trostlos wie zuvor, und die Gemeinde weitaus spärlicher; mein kleines Projekt hatte ihre Mitgliederzahl offenbar reduziert. Aber mein Glück hatte mich noch nicht verlassen. Die eine Person, die zu finden ich gehofft hatte, war da. Nach zehn Minuten Ermahnungen von der Kanzel und fieberhaften Abstinenzschwüren der Nulpen entschuldigte ich mich für einen Augenblick, und als ich zurückkam, hatte ich, was ich brauchte.
Alles, was ich danach noch wollte, war, zu verschwinden. Ich brachte es nicht fertig. Ich hatte die Schuld der Höflichkeit Nelson Rockwell gegenüber nicht willentlich auf mich geladen. Aber nun stand sie einmal in den Büchern.
Also blieb ich bis zum schauerlichen, langweiligen Ende da und ließ sogar zu, daß er die Sojaburger kaufte, als es vorbei war. Das war wohl ein Fehler. Es ermutigte ihn, mir erneut Hilfe anzubieten. »Nein, ehrlich, Nels, ich möchte mir kein Geld leihen«, sagte ich, und dann ließ mich etwas hinzufügen: »Besonders, wenn ich nicht weiß, wann ich es zurückzahlen kann.«
»Jau«, sagte er ernst, während er sich Burgersaft von den Fingern leckte. »Gute Jobs sind heutzutage schwer zu kriegen, nehme ich an.« Ich zuckte die Achseln, als bestünde das Problem darin, mich zu entscheiden, welches Angebot ich annehmen sollte. Dabei hatte ich bisher erst eins gehabt. Aufseher in einer Pflegeanstalt für Gehirnausgebrannte, und es war mir nicht schwergefallen, das abzulehnen - wer will schon einem vierzigjährigen Vertragsbruchkriminellen die Windeln wechseln? »Hör mal«, sagte er, »ich könnte dir vielleicht was in der Ösenfabrik besorgen. Natürlich, die Bezahlung ist nicht besonders, ich meine, für jemanden mit deinem Hintergrund...«
Ich lächelte vergebungsvoll. Er wirkte verlegen. »Vermutlich hast du Agenturaussichten, was, Tenny? Diese Freundin von dir. Ich hörte, sie hat jetzt ihre eigene Agentur. Jetzt, wo du bei CA bist und dieses Problem unter Kontrolle kriegst, bist du wohl sehr bald wieder da oben.«
»Natürlich«, sagte ich, während ich zuschaute, wie er die letzte Kruste seiner Sojaburger-Semmel in sein Coffiest tunkte. »Aber fürs erste... Was bezahlen die denn so bei Ösen?«
Und daher hatte ich, als ich auf meinem Weg zurück nach Bensonhurst in die U-Bahn stieg, Hoffnung auf einen Job. Keinen guten Job. Nicht einmal einen passablen Job. Aber den einzigen Job in Sicht.
Im dämmrigen Licht der U-Bahn-Tunnellampen holte ich die flache Plastikschachtel hervor, die ich dem wieselgesichtigen Mann vor der Kirche abgekauft hatte. Der Wind strömte durch mein Haar, und ich öffnete sie vorsichtig. Der Inhalt hatte mich zu viel gekostet, als daß ich hätte zulassen können, daß er weggeblasen wurde.
Mit denen hatte ich das Problem womöglich wirklich unter Kontrolle, dachte ich. Wenigstens eine Zeitlang.
Ich betrachtete die kleine grüne Tablette eine ganze Weile. Es hieß, daß man in sechs Monaten zum Psycho wurde, und in einem Jahr war man tot.
Ich holte tief Luft und schluckte sie rasch hinunter.
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Eine plötzliche Aufwallung. Ein Gefühl der Befreiung. Eine Anwandlung von Wohlbefinden.
Was ich bekam, war sehr wenig. Am besten kann ich es beschreiben, es war wie Novocain am ganzen Körper. Ein schwaches Kribbeln, dann eine totale Abwesenheit von Empfindung. Obwohl ich drei Stunden über meine letzte Moke hinaus war, wollte ich keine.
Aber ach, was war die Welt grau!
»Wir machen Ösen billig«, sagte Mr. Semmelweiss. »Das heißt keinen Ausschuß. Das heißt, wir können uns in dieser Branche nicht mit Leuten abgeben, die dauernd im Tran sind, dafür steht zu viel auf dem Spiel.« Er starrte mißbilligend meine Personalakte an. Von dort, wo ich stand, konnte ich den Schirm nicht sehen, aber ich wußte, was sie aussagte. »Andererseits«, räumte er ein, »ist Rockwell einer meiner besten Männer, und wenn er sagt. Sie sind in Ordnung...«
Also hatte ich den Job. Aus diesem Grunde und aus zwei anderen. Grund Nummer 1: Die Bezahlung war lausig. Bei den Gehirnausgebrannten hätte ich besser mein Auskommen gehabt, finanziell gesprochen, obwohl ich in der Ösenfabrik natürlich nicht meine Fingerspitzen dabei riskieren mußte, die Patienten mit dem Löffel zu füttern. Grund Nummer 2: Es elektristierte Semmelweiss, Besuchern seinen Mitarbeiter aus der Werbebranche zu zeigen. Manchmal, wenn ich volle Kästen wegschleppte und leere an ihre Stelle schob, sah ich ihn im Innern seines verglasten Kabäuschens am Ende der Halle, wie er auf mich deutete. Und lachte. Und die Leute, die bei ihm waren, Kunden oder Aktionäre oder was auch immer, grinsten ungläubig angesichts dessen, was er sagte.
Es machte mir nichts aus.
Nein, das stimmt nicht, es machte mir etwas aus, eine Menge sogar. Aber nicht so viel, daß ich deswegen meinen Job - irgendeinen Job - aufs Spiel gesetzt hätte, bis ich einen Weg finden konnte, in mein altes Leben zurückzukehren. Die kleinen grünen Pillen waren vielleicht ein erster Schritt. Vielleicht. Zugegeben, ich soff keine Mokes mehr. Aber das war auch alles, was sich sagen ließ. Ich legte weder Gewicht zu, noch wurde ich diese Flitzebogenspannung los, die meine Finger zucken lassen wollte und bewirkte, daß ich mich auf meiner Schlafmatte herumwarf und -drehte, bis ich manchmal einen der Kurzen aufweckte und die Eltern mich anfunkelten und vor sich hin murrten. Aber das meiste davon war innerlich, wo es sich nicht zeigte, und mein Verstand war geschäftiger, flinker denn je. Ich erfand grandiose Slogans, Kampagnen, Produktgruppen, Promotions. Eine nach der anderen klapperte ich die Liste der Agenturen ab, schickte ihnen Lebensläufe, bettelte um Gespräche, rief Personalchefs an. Die Lebensläufe bewirkten keine Antworten. Auf Anrufe hin wurde eingehängt. Die Besuche endeten, wenn man mich hinauswarf. Ich probierte es bei allen, den großen und den kleinen. Bei allen außer einer.
Ich war dicht davor. Ich kam bis zum Bürgersteig vor dem eher unauffälligen kleinen Gebäude in der Nähe des alten Lincoln Center, das die brandneue Agentur Haseldyne & Ku beherbergte...
Aber ich ging nicht hinein.
Ich weiß nicht, was mich weitermachen ließ, denn es war bestimmt nicht Ehrgeiz, und es war ganz bestimmt nicht die Tatsache, daß mein Leben so lebenswert war. Die graue Taubheit hielt Schmerz und Verlangen außen vor, aber sie wirkte ebenso gut gegen Vergnügen und Freunde. Ich schlief. Ich aß. Ich arbeitete an meinen Lebensläufen und Bänden mit Arbeitsproben. Ich riß meinen Job in der Ösenfabrik ab. Ein Tag folgte auf den anderen.
An der Ösenfabrik war bestimmt nichts Anregendes. Die Arbeit war öde, und die Branche schien in den letzten Zügen zu liegen. Wir sahen nie das fertige Produkt. Wir warfen die Ösen aus, und sie wurden nach Orten wie Kalkutta und Kampuchea verschifft, um dazu gebraucht zu werden, wozu auch immer sie gebraucht wurden - es war billiger für die Inder und Kampucheaner, von uns zu kaufen, als sie am Ort herzustellen, aber nicht viel billiger, also florierte das Geschäft nicht. In der ersten Woche, die ich da war, machten sie die Drahtplastik-Abteilung dicht, obwohl stranggepreßtes Aluminium und schmelzlackiertes Messing immer noch ganz gut liefen. In den oberen Etagen der Fabrik gab es jede Menge ungenutzten Raums, und wenn nicht viel zu tun war, stöberte ich dort herum. Man konnte in der Stratigraphie der alten Fabrik die Geschichte der Branche geschrieben sehen. Bolzenlöcher im Boden, wo einmal die Ein-Mann-Stanzpressen gestanden hatten... überlagert von den Narben der Hochgeschwindigkeits-Strangpressen-Straßen... begraben unter den Spuren der mikroprozessorgesteuerten Maßfertigungsmaschinen... und nun wieder überholt von der Ein-Mann-Stanzpresse. Und ganz mit Staub, Rost und Schimmel bedeckt. Es gab Lampen im oberen Stockwerk, aber als ich den Schalter betätigte, gingen nur eine Handvoll an, alte Leuchtstoffröhren, von denen die meisten wild flackerten. Ein Heer von Treppenschläfern hätte hier ein Zuhause finden können, aber Mr. Semmelweiss jagte dem Hirngespinst von »wünschenswerteren« Mietern nach... oder der noch phantastischeren Hoffnung, daß irgendwann Ösen wieder einen Boom erleben würden und die ganze Fabrik wieder emsig sein würde.
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