Die Freitage waren am schlimmsten, weil wir da nicht einmal versuchten, das Feldgeistlichen-Büro offenzuhalten. Ich kämpfte mich nach Urumqi durch die Massen von Winzlingen in ihren Wagen und Karren und Fahrrädern, in deren Augen der Verbraucherglanz schimmerte, während sie den Basaren der großen Stadt zustrebten, reservierte ein Zimmer, füllte meinen Moke-Vorrat auf, strebte dem Offizierskasino und meinen endlosen Kabbeleien wegen des Omni-V und der Telefonanrufe zu...
Aber diesmal wartete Gert Martels vor dem Kasino auf mich. »Tenny«, sagte sie, während sie sich rasch umsah, um sicherzugehen, daß niemand nahe genug war, um zuzuhören, »du siehst schrecklich aus. Du brauchst ein Wochenende in Shanghai. Und ich auch.«
»Außerhalb meiner Urlaubsscheinbefugnis«, sagte ich düster. »Geh und versuch es bei Oberstleutnant Headley, wenn du willst. Vielleicht läßt er dich ja gehen. Mich nicht. Da bin ich mir sicher.« Ich blieb stehen, weil sie mir zwei Passierscheinkarten unter die Augen hielt. Über dem Magnetstreifen war Headleys Unterschrift.
»Es hat keinen Sinn«, sagte sie, »mit dem Hauptfeldwebel befreundet zu sein, wenn er nicht ein paar Passierscheine in den Unterschriftsakten des Obersten schmuggeln kann, wenn er das will. Das Flugzeug geht in vierzig Minuten, Tenny. Möchtest du mit?«
Shanghai! Juwel des Orients! Um zehn Uhr an jenem Abend saßen wir in einer schwimmenden Bar an der Bund. Ich verdrückte gerade die zehnte - oder vielleicht war es auch die zwanzigste - tüchtig gespritzte Moke, musterte dabei die schwarzhaarigen kleinen Barmädchen mit den Flapperfrisuren und fragte mich, ob ich versuchen sollte, bei einer Anschluß zu finden, bevor ich zu benommen war, um etwas in dieser Richtung zu unternehmen. Gert trank ÄNA pur und wurde mit jedem Gläschen steifer und vorsichtiger in ihrer Redeweise. Und glasiger in den Augen. Das war eine komische Sache bei Gert Martels. Sie war keine schlechtaussehende Frau, wenn man die Narben nicht mitrechnete, die über ihrer linken Gesichtshälfte klafften, vom Ohr bis zur Kinnlade. Aber ich hatte mich nie an sie herangemacht oder sie sich an mich. Viel davon hatte wohl mit dem militärischen Ehrenkodex und den Schwierigkeiten zu tun, in die man geraten konnte, wenn man zwischen Offizieren und Mannschaftsdienstgraden fraternisierte, aber eine Menge anderer Os und MDs hatten es riskiert und waren damit durchgekommen. Und Mitzi lag lange, lange zurück. »Wie kommt's?« fragte ich, als ich der Bedienung winkte.
Sie rülpste damenhaft und richtete ihre Augen auf mich. Es dauerte ein oder zwei Sekunden; sie schien Schwierigkeiten zu haben, scharf zu sehen. »Wie kommt genau was, Tennison?« fragte sie mit sorgfältiger Betonung.
Ich hätte ihre Frage beantwortet, nur kam die Kellnerin vorbei, und ich mußte einen weiteren Moke- und Dschinn und einen Äthylneutralalkohol für die Dame bestellen. Es dauerte einen Augenblick, bis ich mich wieder erinnerte. »Ach ja«, sagte ich, »was ich fragen wollte, war, warum wir beide es eigentlich nie miteinander probiert haben.«
Sie bedachte mich mit einem würdevollen Lächeln. »Wenn du möchtest, Tennison...«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine nicht, wenn ich möchte, ich meine, wie kommt's, daß es nie, na, du weißt schon, zwischen uns gefunkt hat.« Sie antwortete nicht sofort. Die Drinks kamen, und als ich die Kellnerin bezahlt hatte und Gert den ÄNA gab, sah ich, daß sie weinte.
»Mensch, hör mal«, sagte ich, »ich hab' doch nicht meinen Rang oder irgendwas raushängen lassen, Oder hab' ich das?« fragte ich, indem ich mich bestätigungsheischend am Tisch umsah. Ich erinnerte mich nicht mehr so genau, wie es dazu gekommen war, aber es schienen da vier oder fünf Leute zu sein, die sich uns angeschlossen hatten. Sie alle lächelten und schüttelten die Köpfe - was vielleicht bedeutete Nein, hatte ich nicht und vielleicht Nein, wir verstehen kein Englisch. Aber einer von ihnen tat das doch. Der Zivilist. Er beugte sich herüber und rief über den Lärm der Bar:
»Ihl mich lassen nächste Lunde spendielen, okay?«
»Warum nicht?« Ich dankte ihm mit einem Lächeln und wandte mich wieder Gert zu. »Entschuldige, aber was hast du gesagt?« fragte ich.
Einen Augenblick lang dachte sie darüber nach, und der Zivilist beugte sich zurück zu mir:
»Ihl Jungs aus Uhlumuhtschih, lichtig?« Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, daß er Urumqi zu sagen versuchte, aber dann gab ich zu, daß er recht habe. »Kann immel elkennen! Ihl Jungs Spitze. Ich spendielen zwei Lunden!« Und die Matrosen von der Whangpu-Flußpatrouille grinsten und applaudierten alle; so viel Englisch konnten sie auch.
»Ich nehme an«, sgte Gert nachdenklich, »ich war wohl im Begriff, dir meine Lebensgeschichte zu erzählen.« Sie nahm den nächsten Drink entgegen, nickte höflich und kippte ihn zwischen zwei Sätzen herunter, ohne aus dem Takt zu kommen. »Als ich ein kleines Mädchen war«, sagte sie, »hatten wir eine glückliche Familie. Was Mutti alles aus Soja-tem und ZelloWeizen und ein paar Prisen MSG machen konnte! Und zu Weihnachten hatten wir dann immer TruThan - richtiges wiederaufbereitetes ÄchtFlaisch, und Dscheleh-Dessert mit Preiselbeeraroma und alles.«
»Weihnachten!« rief der Zivilist entzückt aus. »Das Chlistfest! Ach, ihl Jungs Spitze mit eulem Chlistfest!«
Sie schenkte dem Mann ein höfliches, aber kühles Lächeln und griff nach dem nächsten Drink. »Als ich fünfzehn war, starb Daddy, Sie sagten, er hätte Bronchial-irgendwas. Er hustete sich zu Tode.« Sie hielt inne, um zu schlucken, und das gab dem rundlichen alten Zivilisten eine Chance.
»Ihl wissen, ich gehen zul Missionalsschule?« fragte er. »Da hatten auch Chlistfest. Oh, wil auch Missionalsjungs schulden viel gloße Menge!«
Es war nicht einfach für mich, einer Lebensgeschichte zu folgen, viel weniger zweien. Die Bar war inzwischen erheblich lauter und voller geworden, und obwohl der alte Ausflugsdampfer sicher an den Pfählen der Bund vertäut war, hätte ich schwören mögen, daß er in den Wellen schaukelte. »Nur zu«, sagte ich allgemein.
Gert reagierte schneller. »Wußtest du, Tenny«, fragte sie, »daß Fabriken früher einmal Rauchfilter in den Schornsteinen hatten? Sie filterten den Schwefel und die Flugasche aus. Die Luft war sauber, und die durchschnittliche Lebenserwartung betrug acht Jahre mehr als heute.«
»Hiel auch!« rief der Zivilist. »Als ich in Missionalsschule...«
Aber sie überging ihn einfach. »Weißt du, warum man damit aufhörte? Tod. Man wollte mehr Tod. Im Tod liegt das große Geld. Teilweise sind es die Bilanzen der Versicherungsgesellschaften - die Versicherungsmathematiker rechneten aus, daß es weniger kostet, Lebensversicherungspolicen auszuzahlen, als Leibrenten. Dann ist da das ganze Dollaraufkommen aus der Krankenhausversicherung, und ein Fünfzigjähriger, der sein ganzes Leben im Smog gelebt hat, weiß, daß er eine Menge Zeit damit verbringen wird, krank zu sein, also muß er eine abschließen - dann, wenn er schnell stirbt, ist das fast alles Profit. Natürlich sind da auch noch die Leichenbestatter. Du würdest nicht glauben, welche Profite beim Begraben der Toten gemacht werden. Aber vor allem -« Sie sah sich am Tisch um, mild lächelnd- »vor allem, na ja, zum Teufel. Sobald ein Verbraucher das Rentenalter erreicht, wieviel Geld hat er dann, um sich Sachen zu kaufen? Verdammt wenig. Wer also braucht ihn?«
Ich sagte nervös: »Gert, Schätzchen, vielleicht sollten wir ein bißchen frische Luft schnappen.« Der alte Zivilist grinste und nickte; er hatte selbst genug intus, daß es ihm egal war, was irgend jemand sagte. Aber einer der Whangpu-Matrosen runzelte die Stirn, als verstünde er doch ein wenig Englisch. Es schien Gert kalt zu lassen.
»Hätte es frische Luft gegeben«, erklärte sie, »wäre Daddy vielleicht nicht auf diese Art gestorben, oder?« Sie streckte mit einem süßen Klein-Mädchen-Lächeln ihr Glas aus. »Könnte ich wohl noch ein bißchen haben, bitte?« fragte sie.
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