Rachel Moser flackerte wie zahllose Stühle, Kaffeekannen, gestickte Pantoffel und echte viktorianische Standuhren vor ihr geflackert hatten. Wie acht Hunde, zwei Katzen und ein Schaf vor ihr geflackert hatten. Im Moment des Flackerns zeigte sich keine Veränderung ihres Gesichtsausdrucks, kein Anzeichen von Schmerz, Freude oder Überraschung. Sie flackerte nur und verschwand erwartungsgemäß. Zuerst sah man sie noch, und im nächsten Moment nicht mehr. Und die Implosion, die sie verursachte, war so stark, daß die Laborfenster erzitterten, und man den Knall noch hören konnte, obwohl draußen eine Handgranate aus dem Hovercraft geworfen wurde und die Beschleuniger noch schrecklich jaulten. Die Startbühne war plötzlich sehr leer. Die Apparate folgten ihrem Programm und stellten sich selbst ab. An dem Hauptcomputer verkündete eine Leuchtschrift: START O.K.
Manny Littlejohn konnte von seinem Platz aus die Leuchtschrift zuerst erkennen und bedauerte, daß keiner sich die Mühe gemacht hatte, dem Computer das Sprechen beizubringen. Er war der erste, der sich im Laboratorium wieder bewegte, und das Knacken seiner Gelenke schien in der bedrückenden Stille einem berstenden Stuhl vergleichbar. Er war auch der erste, wie es seiner Position zukam, der das Wort ergriff.
»Zumindest der Anfang des Experimentes«, sagte er mit milder Stimme, »scheint ausgezeichnet gelungen zu sein. Aber meine Glückwünsche will ich noch ein wenig aufschieben. Wie lange müssen wir warten, bis der Wiedereintritt in unsere Zeit stattfindet?«
»Fünf Minuten.« Obgleich der Gründer die Frage nicht an Liza gerichtet hatte, gab sie ihm jetzt die Antwort. Der Gründer drehte ihr das Gesicht zu. Wenn sie einen Protest anmelden wollte, war er dankbar dafür, da sie, typischerweise, so lange damit gewartet hatte, bis es zu spät war. »Fünf Minuten, Sir. Es wird fast auf die Sekunde genau sein. Wir haben das nukleische Verfahren angewendet, weil es präziser arbeitet.«
Der Gründer überhörte nicht – konnte gar nicht überhören –, wie einzigartig sie das vorletzte Wort betont hatte. »Sie deuten an, daß Sie mit diesem Verfahren nicht einverstanden sind, Miß Simmons.« Er war etwas interessiert. Schließlich mußte er sich fünf Minuten lang die Zeit vertreiben. »Präziser arbeitet, haben Sie gesagt. Präziser als was?«
Professor Krawschensky drängte sich jetzt vor Liza. »Achten Sie nicht auf sie, Gründer.« Er war wütend, obwohl das die Umstände doch gar nicht rechtfertigten. Manny Littlejohns Interesse war jetzt erheblich größer. »Sie hat sich eine Theorie zusammengebastelt, daß das nukleische Schrittmacherverfahren die Zellstrukturen zu stark beansprucht. Das ist reine Spekulation. Es gibt nicht den geringsten Beweis dafür.«
»Mein lieber Igor, was Sie als Spekulation abtun, ist oft nur Instinkt, der auf strenger Logik beruht, sich aber nur im Unterbewußtsein äußert. Ich respektiere so etwas.« Manny Littlejohn legte eine Pause ein. Doch ehe der Professor sich eine passende Antwort zurechtgelegt hatte, fuhr er fort: »Sagen Sie mir, Igor – welches Verfahren haben Sie verwendet, als Sie das Experiment mit dem Schaf durchführten?«
»Das ist mein Beweis, Gründer. Wir verwendeten das nukleische Verfahren. Und das Schaf hat dabei nicht den geringsten Schaden davongetragen.«
Manny Littlejohn zuckte die Achseln und hob beide Hände. »Sie haben hier die Verantwortung, Igor. Sie müssen natürlich das tun, was Sie für richtig halten.«
Es war ein Gegenangriff, der die Sieger von den Besiegten säuberlich trennen sollte. Doch die Wirkung seiner Worte, die in dem stillen Labor drohend nachhallen sollten, unterstrichen von dem Kampflärm draußen im Dorf, wurde verdorben. Denn in diesem Moment platzte Roses in das Labor hinein, eine große tote schwarze Katze unter den Arm geklemmt.
Er kam rückwärts herein und schimpfte: »Verdammte Idioten! Knallen einfach so in der Gegend herum!« Er tastete eifrig an sich herum und entdeckte ein Loch im Hemd, zum Glück an einer Stelle, wo es sich am meisten bauschte. »Verdammte Idioten!« wiederholte er noch einmal mit Nachdruck.
Erst jetzt drehte er sich um, wohl spürend, daß der Raum hinter ihm voller Leute war. Beim Anblick so vieler hochgestellten Figuren – Liza, David Silberstein, Dr. Meyer, Professor Krawschensky, Manny Littlejohn – verrauchte sein Unmut ziemlich rasch.
»Wußte nicht, daß hier etwas los ist. Wollte nur den Professor sprechen. Wußte nicht, daß hier etwas los ist …«
Er sah die Leute der Reihe nach an und scharrte verlegen mit den Füßen.
Lizas erste Reaktion war Ekel und Abscheu. (Seit jener Nacht im Krankenzimmer hatte sie es immer so einrichten können, daß sie Roses nicht einmal zu Gesicht bekam.) Warum trat er immer wieder in ihr Leben und schleppte etwas Totes mit sich herum? Warum schien er immer so verletzt, so tief getroffen? Ihr zweiter Blick galt natürlich der Katze unter seinem Arm. Eine schwarze Katze. Nun, eine schwarze Katze war eine schwarze Katze. Und eine tote schwarze Katze war nur noch eine traurige Karikatur dessen, was sie einmal in ihrem Leben dargestellt hatte. Sie, Liza, hatte keinen Grund, überhaupt keinen Grund, zu vermuten, es könne sich bei dieser toten Katze um die gleiche schwarze Katze handeln, die sie vor knapp zwei Tagen auf der Bühne mühsam gebändigt und festgeschnallt hatte. Sie hatte keinen Grund, das zu vermuten; doch sie wußte sofort, daß es die gleiche Katze war. Und jetzt war sie tot.
»Warum hast du die Katze hierher gebracht?« fragte sie. »Wir wollen sie hier nicht haben. Bringe sie sofort wieder weg!«
»Ihr stellt mit Tieren Sachen an, daß sie sterben. Das ist nicht recht.«
»Unsinn. Das ist nicht eines von unseren Versuchstieren. Die Katze, die wir verwendet haben, ist lebendig und wohlauf. Geh doch zum Veterinär, wenn du mir nicht glauben willst!«
»Erinnerst du dich nicht mehr, daß die Katze ausgerissen ist? Erinnerst du dich nicht, wie sie im Garten herumgesaust ist? Immer im Kreise herum? Erinnerst du dich …«
»Verschwinden Sie!« David Silberstein konnte Roses nicht mehr länger ertragen. »Sie sind ein Störenfried! Verschwinden Sie und lassen Sie sich hier nicht mehr sehen!« Es kamen jetzt Dinge zur Sprache, die er nicht mehr hören konnte. Für die er selbst verantwortlich war. »Hinaus, sagte ich! Gehen Sie zurück in Ihr Loch!«
Doch vom Gründer kam der Gegenbefehl: »Nein, warte!«
Zwei Worte, nicht besonders laut oder befehlend gesprochen, die absolute Autorität dadurch nur bestätigend. Keiner rührte sich. Der Gründer war jetzt ausgeruht. Er erhob sich von seinem Stuhl und ging fast leichtfüßig auf Roses zu. Er betrachtete den Kadaver und sagte: »Ein hübsches, junges Tier. Offenbar unverletzt und auf der Höhe seiner Lebenskraft.« Dann, über die Schulter: »Ein Opfer der nukleischen Schrittmacher, Igor?«
»Bestimmt nicht, Gründer. Sie haben gehört, was Liza gesagt hat. Alle unsere Versuchstiere sind …«
»Können wir uns in dieser traurigen Auseinandersetzung nicht wenigstens die Wiederholungen sparen, Igor?« Der Gründer seufzte und blickte auf die Uhr. Draußen im Dorf verebbte der Gefechtslärm. Die Sicherheitsbeamten hatten mit ihrer fahrbaren Barrikade die Angreifer zum Strand zurückgedrängt. Ein bewaffneter Eindringling, der fast bis zum Labor vorgedrungen wäre, war tot. Der ganze Spuk hatte keine fünf Minuten gedauert. Der Gründer verglich seine Armbanduhr mit der Uhr am Hauptcomputer. Die letzten dreißig Sekunden von Rachel Mosers »Zeitreise« waren angebrochen.
»Ein historischer Augenblick, Igor. Ich hatte mir so gewünscht, daß wir beide auf diesen Moment stolz sein könnten.«
In einem zeitlosen Irgendwo (Irgendwo?) begannen die nukleischen Schrittmacher in Rachel Mosers Zellstrukturen sich zu regen. Sie reaktivierten den angeborenen Brems- oder Puffermechanismus, so daß Rachel Moser langsamer wurde, dem chronomischen Fluß Widerstand leistete, in das irdische Gleichgewicht zurückgerissen wurde. In dem Augenblick, als die Schubkraft ihrer Molekularstrukturen gegen den stetigen Strom der Chronoküle genau der Schubkraft des irdischen Universums entsprach, tauchte sie wieder auf der Bühne auf, pünktlich bis auf eine Hundertstelsekunde.
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