Sie saß hübsch und bescheiden auf ihrem Stuhl, der Gesichtsausdruck noch genauso wie vorhin, ohne Zeichen von Schmerz, Vergnügen oder Überraschung. Sie war sich nicht bewußt, daß inzwischen fünf Minuten verstrichen waren, weil es für sie diesen Zeitraum nicht gab. Sie war jetzt genau fünf Minuten jünger als alle Menschen, die im gleichen Moment wie sie geboren worden waren.
Und dieser Moment der »Zeitlosigkeit« ging jetzt natürlich zwangsläufig vorüber. Andere Momente folgten, brachten Verwirrung, brachten Schmerzen.
»Kopf.« Sie runzelte die Stirn, hob die Hände, preßte sie gegen die Schläfen, schloß die Augen, riß sie wieder ganz weit auf. »Es tut weh – oh, tut das weh …«
Der Arzt stürzte zu ihr. Noch bewegte sich keiner von den anderen Zeugen. Er nahm ihr Handgelenk, kauerte sich vor ihr nieder, blickte ihr in die Augen. Sie erkannte ihn wieder, versuchte zu lächeln.
»Doktor … ich … ich müble und misch mascht … es mascht mich …«
»Sprechen Sie jetzt nicht! Schließen Sie die Augen und entspannen Sie sich. Versuchen Sie nicht zu reden …«
»Esch hilft mir. Esch …« Sie versuchte aufzustehen; aber es gelang ihr nicht. »Doktor, es wird mir mübel – nein – es mascht mich schwimblig. Nein – Sie muschen – muschen -«
Ihre Sprache verlor jetzt jede Form und jeden Zusammenhang. Der Arzt half ihr vom Stuhl hoch. Sie verstummte und lächelte jetzt nur noch, lächelte jeden an, der im Labor diesen historischen Augenblick miterlebte. Sie deutete auf ihren Mund und schüttelte, immer noch lächelnd, den Kopf.
»Mübel«, sagte sie, »mübel?«
Wer sollte diese Frage beantworten können? David Silberstein fing an zu weinen. Wenn Rachel Moser wenigstens nicht dauernd gelächelt hätte. Sie zuckte mit den Schultern, bewegte sich schwerfällig die Stufen von der Startbühne hinunter. Im gleichen Moment läutete das Telephon.
Manny Littlejohn erreichte den Apparat als erster. »Hier spricht der Gründer.«
»Mr. Littlejohn?« Der Tierarzt war am Apparat. Manny Littlejohn schaltete rasch den Lautsprecher ab, damit nur er verstehen konnte, was der Mann ihm zu melden hatte. »Mr. Littlejohn, ich bin mit der Autopsie des Schafes soeben fertig geworden. Ich hatte von Anfang an einen Gehirnschaden vermutet. Deshalb …«
»Ich weiß«, unterbrach Manny Littlejohn, »ich weiß.«
»Schwere Schäden in allen Gehirnsubstanzen, wo die Intelligenz …«
»Ich weiß es. Wir wissen es. Geben Sie mir Ihren Befund schriftlich, ja?«
»Aber, Gründer, ich habe jetzt den Beweis von einem progressiven Zellenzerfall im Gehirn höherer Lebe …«
»Schriftlich, wenn ich bitten darf, junger Mann!« Er seufzte, wappnete sich für einen Nachsatz, den er unbedingt anbringen mußte: »Und außerdem hätten Sie uns das früher mitteilen müssen. Ja. Sofort, als das Tier starb. Jetzt ist es bereits zu spät.« Er fragte sich, ob er dem Tierarzt nicht zu viel zumutete. »Ich weiß zwar noch nicht, wie ich jetzt verfahren werde; aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Ihren Namen vielleicht gar nicht erwähnen müssen. Ja, ja.«
Er hängte ein und drehte sich langsam den anderen zu. Er begegnete Lizas Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Hinter ihr stützte der Arzt Rachel Moser, die immer noch ein verwirrtes, verlorenes Lächeln auf ihrem Gesicht trug. »Der Tierarzt war am Apparat«, sagte der Gründer. »Er hat mir gemeldet, daß das Schaf gestorben ist.«
Er brauchte nichts mehr hinzuzusetzen. Jetzt mußte er bereits an die Folgen dieser katastrophalen Panne denken. Er blickte Rachel Moser nach, die sich nur noch stolpernd vorwärtsbewegte.
»Ich habe den Eindruck«, sagte er dann, »daß die nukleische Methode als brauchbare Lösung den Beweis schuldig geblieben ist. Würden Sie mir in diesem Punkt recht geben, Igor, alter Freund?«
Inzwischen stolperte Rachel Moser die letzten Stufen der Labortreppe hinunter. Sie spürte die Sonne auf ihrem Gesicht und in ihrem Kopf den Anfang einer namenlosen Angst. Sie hängte sich noch fester beim Doktor ein und lächelte ihn an. Lächelte in eine dunkle Welt. Lächelte und nickte, den Kopf ein wenig schief gelegt.
Roses Varco besaß die seltene menschliche Eigenschaft, überflüssig zu sein. Er war nicht wie die anderen: Er wußte nicht, was die anderen wußten; er fühlte nicht, was die anderen fühlten.
Und wenn das Schlimmste zum Schlimmsten kam (obgleich das natürlich nicht passieren durfte), würde ihm keiner eine Träne nachweinen. Als menschliches Versuchskaninchen für die peripherische »Zeitreise« leistete er wahrscheinlich seinen ersten und voraussichtlich einzigen großen Dienst für die Menschheit.
Er saß ganz ruhig auf der Startbühne, nicht im geringsten im Bilde, weshalb und wofür. Sein Weg hierher war so unerbittlich vorgezeichnet, wie der Sonnenaufgang am Morgen, seitdem Manny Littlejohn sich dafür entschieden hatte, daß Penheniot der ideale Ort für sein Forschungszentrum wäre. Und nun, da er es endlich geschafft hatte, war keiner über seine Rolle erstaunt. Sein Daseinszweck war jetzt offenkundig, der Grund, weshalb er auf die Welt gekommen war.
Nachdem Dr. Meyer ihn gewogen, untersucht und für vollkommen gesund erklärt hatte, saß er jetzt auf der Startbühne und hörte sich die komischen Geräusche an, die sein Puls in seinen verstopften Ohren erzeugte. Er schluckte seinen Speichel, sah sein Gesicht ein dutzendmal auf den Linsen kopiert, und alle Leute waren so nett zu ihm, was ihm ganz gut gefiel. In den Köpfen der Spezialisten, die ihn umringten, herrschte eine beruhigende Ungewißheit darüber, wer von ihnen zuerst vorgeschlagen hatte, ihn als Versuchskaninchen zu verwenden. Zweifellos war es eine Gruppenentscheidung gewesen, streng demokratisch, das Ergebnis einer unbewußten Übereinstimmung, die aus der gegebenen Lage zwangsläufig herauswachsen mußte. Nicht, daß das jetzt noch eine Rolle gespielt hätte. Oft lagen im Leben ein Mangel und eine Möglichkeit, ihn zu beseitigen, dicht nebeneinander. Und da die Hauptgefahr bei der chronomischen Fahrt in die Zukunft in einem möglichen Gehirnschaden bestand, war es doch nur vernünftig, daß man Roses als Versuchskaninchen benutzte, den man kaum als ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft – selbst in der Blüte seines Lebens nicht – bezeichnen konnte.
Falls die geringe Zuverlässigkeit des peripherischen Schrittmachers Roses weit über sein zeitliches Ziel hinausschießen lassen sollte, hatte man für ihn in aller Eile ein Plakat vorbereitet, das jetzt auf seinem Rücken hing. Ich komme aus dem Jahre 1988. Ich bin kein typischer Vertreter meiner Zeit. Bitte, schicken Sie mich zurück, wenn Sie das können, und schreiben Sie auf dieses Plakat, ob noch mehr von meinen Zeitgenossen bei Ihnen willkommen sind und welche Lebensbedingungen sie bei Ihnen antreffen werden. Ich stelle in keiner Weise eine Bedrohung für Sie dar. Nehmen Sie mich bitte freundlich auf. Niemand zeigte ihm den Text, der auf dem Plakat stand. Es hätte zu lange gedauert, ihm den Text zu erklären.
Nach einem kurzen protokollarischen Streit zwischen Professor Igor Krawschensky, dem wissenschaftlichen Direktor des Forschungsdorfes Penheniot, und dessen Gründer, Manny Littlejohn, wurde das Plakat unterzeichnet. Das Plakat drückte etwas und scheuerte am Hals. Doch man fuhr ihn barsch an, als er versuchte, es zu entfernen.
Liza arbeitete konzentriert am Computer. Sie berechnete die Werte, die sie aus dem peripherischen Schrittmacher wußte. Sie war nicht ganz zufrieden mit sich selbst. Sie hatte heftig protestiert, die unverletzlichen Grundrechte des Menschen zitiert und dabei heimlich mit der Faust Roses einen Stups in den Rücken gegeben, damit er sich schneller auf die Startbühne zubewegte. Sie wußte, was sie ihm angetan hatte. Daß David Silberstein sich an dieser Entscheidung beteiligte, machte die Lage nur noch schlimmer. Und jetzt berechnete sie die Ladung des Schrittmachers … Sie tastete das Gewicht und die Koeffizienten der Molekularstruktur ein. Sie fügte die üblichen 50 Prozent Toleranz als Sicherheitsfaktor hinzu. Dann betrachtete sie die Zahlen und blickte zu Roses hinüber, der schwitzend auf der Startbühne hockte. Er verrenkte den Hals und versuchte, die Inschrift auf dem Plakat zu lesen. Liza löschte die 50 Prozent Sicherheitszugabe wieder aus und tastete 75 Prozent ein. Es war wichtig, daß er keinen Schaden nahm – jetzt, wo alles zu spät war. Um ganz sicher zu gehen, verbesserte sie auf 80 Prozent. Oder vielleicht legte sie nur die 5 Prozent zu, weil er so verletzbar aussah. Oder vielleicht auch nur, weil sie sich schämte. Hätte man ihm wenigstens nicht sagen können, was man von ihm verlangte? Und ganz zuletzt, ganz verstohlen, erhöhte sie den Sicherheitsfaktor auf 85 Prozent, um ihr schlechtes Gewissen ein wenig zu erleichtern.
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