»Okay, Pete«, sagte das Mädchen und wandte sich sichtlich erleichtert zum Gehen. »Bis später mal.« Grinsend eilte sie davon.
Der arme Teufel, dachte er bei sich selbst. War das nun wirklich gut gemeint? Oder einfach nur eine Verarscherei, um Pete endgültig durcheinanderzubringen? Ausgekocht von zwei gehässigen Weibsbildern, als sie sahen, wie er – ich – hier so alleine saß. Einfach nur ein mieser kleiner Seitenhieb, um – Ach, zur Hölle damit, dachte er.
Oder es könnte auch wahr sein, entschied er, während er sich den Mund abwischte, seine Serviette zerknüllte und sich steif erhob. Ich möchte zu gerne wissen, ob der heilige Paulus Mundgeruch hatte. Er schlenderte aus der Cafeteria, die Hände wieder in den Taschen vergraben. In den Taschen des Jedermann-Anzugs und dann auch in den richtigen Anzugtaschen darunter. Vielleicht war das der Grund dafür, warum Paulus in den späteren Jahren seines Lebens dauernd im Gefängnis saß. Sie haben ihn deswegen reingesteckt.
Auf solche beschissenen Trips wird man ausgerechnet immer dann geschickt, wenn sowieso schon alles schiefläuft, dachte er, als er die Cafeteria verließ. Erst diese ganzen Tiefschläge, und dann knallt einem so eine Puppe glatt noch mal einen vor den Latz. Als ob die gebauten Weisheiten dieser Psychologen-Macker, die sich für unfehlbarer als der Papst halten, nicht schon ausreichen würden. Anscheinend nicht. Scheiße, dachte er. Er fühlte sich jetzt sogar noch schlechter als vorher; er konnte kaum noch gehen, kaum noch denken; sein Gehirn summte, so durcheinander war er. Durcheinander und verzweifelt. Jedenfalls, dachte er, bringt’s Odol nicht; Lavons ist besser. Außer, daß es, wenn du’s wieder ausspuckst, so aussieht, als würdest du Blut spucken. Vielleicht Micrin, dachte er. Das könnte das Richtige sein.
Wenn es in diesem Gebäude einen Drugstore gäbe, dachte er, könnte ich mir eine Flasche kaufen und das Zeug anwenden, bevor ich raufgehe, um Hank gegenüberzutreten. Und dann – dann würde ich vielleicht selbstsicherer auftreten können. Vielleicht würde ich eine bessere Chance haben.
Ich könnte jetzt alles gebrauchen, überlegte er, was mir irgendwie helfen könnte. Ganz egal, was. Jeden Fingerzeig, wie den, den mir dieses Mädchen gegeben hat. Jeden guten Rat. Er fühlte sich niedergeschlagen und ängstlich. Scheiße, dachte er, was soll ich bloß machen?
Wenn ich von allem runter bin, dachte er, dann werde ich keinen von ihnen mehr wiedersehen, keinen meiner Freunde, der Leute, die ich beobachtet und gekannt habe. Ich werde endgültig draußen sein; ich werde vielleicht für den Rest meines Lebens außer Dienst sein. Auf jeden Fall werde ich sie nie wieder zu Gesicht kriegen, weder Arctor noch Luckman noch Jerry Fabin noch Charles Freck. Und, was am schlimmsten ist. auch Donna Hawthorne nicht. Ich werde keinen meiner Freunde wiedersehen, für den Rest der Ewigkeit. Es ist aus.
Donna. Dun fiel ein Lied ein, das sein Großonkel vor Jahren zu singen pflegte, in Deutsch.
»Ich seh’, wie ein Engel im rosigen Duft
Sich tröstend zur Seite mir stellet.« [11] Anm. d. Übers.: Im Original zuerst in Deutsch und dann in Englisch.
Sein Großonkel hatte ihm die Zeilen übersetzt und ihm erklärt, mit dem Engel sei die Frau gemeint, die er liebte, die Frau, die ihn rettete (im Lied). Im Lied, nicht im wirklichen Leben. Jetzt war sein Großonkel schon tot, und es war lange her, daß er jene Worte gehört hatte. Die Stimme seines in Deutschland geborenen Großonkels, der im Haus sang oder laut las.
Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille!
Öd’ ist es um mich her. Nichts lebet außer mir… [12] Anm. d. Übers.: Im Original zuerst in Deutsch und dann in Englisch.
Selbst wenn mein Gehirn nicht ausgebrannt ist, begriff er, wenn ich später wieder im Dienst sein werde, wird jemand anders zu ihrer Überwachung eingesetzt worden sein. Oder sie werden tot sein oder im Knast oder in Staatlichen Nervenkliniken oder einfach nur in alle Winde verstreut, verstreut, verstreut. Ausgebrannt und zerstört, so wie ich, unfähig, herauszuknobeln, was zum Teufel eigentlich läuft. Für mich ist alles irgendwie an einem Endpunkt angekommen. Ich habe, ohne es zu wissen, längst adieu gesagt.
Alles, was ich irgendwann tun könnte, dachte er, ist, die Holo-Bänder wieder abzuspielen, um mich an sie zu erinnern.
»Ich sollte ins Kontroll-Zentrum gehen …« Er blickte um sich und verstummte. Ich sollte ins Kontroll-Zentrum gehen und die Bänder jetzt klauen, dachte er. Solange ich noch dazu in der Lage bin. Später mögen sie gelöscht werden, und später werde ich sowieso keinen Zugang mehr zu ihnen haben. Scheiß was auf die Abteilung, dachte er; sie können die Materialkosten ja mit meinem ausstehenden Gehalt verrechnen. Aufgrund jeder ethischen Erwägung gehören mir die Bänder von jenem Haus und den Leuten darin. Und jetzt, jetzt sind diese Bänder alles, was ich von all dem übrigbehalten habe; das ist alles, was ich mitzunehmen hoffen kann.
Aber zum Abspielen der Bänder, dachte er gehetzt, brauche ich auch das komplette holografische Projektionssystem aus dem Kontroll-Zentrum. Ich werde es demontieren und Stück für Stück wegkarren müssen. Die Kameras und die Aufzeichnungskomponenten werde ich ja nicht benötigen – nur die Abspielvorrichtung und die Mitschauanlage. Ja, besonders die Schirme. Sie werden mich zwar auffordern, den Schlüssel abzuliefern, aber ich kann mir ein Duplikat davon machen lassen, kurz bevor ich ihn abgebe; es ist ein ganz gewöhnlicher BKS-Schlüssel. Ich kann es schaffen! Er fühlte sich sogleich wohler, als er das begriff; in seinem Innern spürte er grimmige Entschlossenheit und eine neue innere Stärke. Und ein wenig Zorn. Auf jedermann. Und Befriedigung darüber, wie gut er alles regeln würde.
Wenn ich andererseits auch die Kameras und die Aufzeichnungsgeräte und das ganze andere Zeug klauen würde, dachte er, könnte ich die Überwachung fortführen. Auf eigene Faust. Könnte die Kontrolle am Leben erhalten, wie ich es bisher getan habe. Zumindest für eine Weile. Aber schließlich ist alles im Leben nur für eine Weile – wie das hier beweist.
Die Überwachung, dachte er, muß erhalten bleiben, das ist das Wichtigste. Und, wenn möglich, die Überwachung durch mich. Ich sollte bis in alle Ewigkeit beobachten, beobachten und auswerten, selbst wenn ich nie irgend etwas hinsichtlich dessen, was ich sehe, unternehme; selbst wenn ich einfach nur dasitze und still überwache, ungesehen: das allein ist wichtig, allein die Tatsache, daß ich an meinem Platz bin und alles überwache, was passiert.
Nicht um ihretwillen. Um meinetwillen.
Yeah, verbesserte er sich, auch um ihretwillen. Falls etwas passiert, so wie damals, als Luckman erstickte. Wenn jemand zuschaut – wenn ich zuschaue –, kann ich es bemerken und Hilfe holen. Um Hilfe telefonieren. Ihnen auf der Stelle Beistand leisten. Den richtigen Beistand.
Sonst, dachte er, könnten sie sterben, und niemand würde darum wissen! Darum wissen oder sich vielleicht auch nur einen Scheißdreck darum kümmern.
Irgendwer muß doch in so erbärmliche kleine Leben wie die ihren eingreifen. Oder wenigstens ihre traurigen Auftritte und Abgänge registrieren. Registrieren und, wenn möglich, dauerhaft aufzeichnen, damit man sich an sie erinnere und ihrer gedenke. An einem besseren Tag, später mal, wenn die Menschen begreifen werden.
*
In Hanks Büro saß er mit Hank und einem uniformierten Beamten und dem schwitzenden, grinsenden Informanten Jim Barris zusammen, während auf dem Tisch vor ihnen eine von Barris’ Cassetten ablief. Ein zweites Gerät zeichnete die Einspielungen auf, damit auch für den Abteilungsgebrauch eine Kopie zur Verfügung stand.
Читать дальше