Da ich beide Formen auf einmal sehe, dachte er, die, die der Norm entspricht, und die, die ihr nicht entspricht, bin ich vielleicht der erste Mensch in der Geschichte, für den beides völlig gleichwertig ist und der so einen flüchtigen Blick von dem erhascht, wie es sein wird, wenn alles richtig ist. Obwohl ich auch das andere wahrnehme, das Gewöhnliche. Und was davon ist was?
Was ist verkehrt, und was nicht?
Wann sehe ich eine Fotografie, wann ein Spiegelbild?
Und wie hoch ist wohl mein Krankengeld oder mein Ruhestandsgehalt oder meine Invalidenrente, während die mich trockenlegen? fragte er sich, und schon jetzt spürte er ein ungeheures Entsetzen, eine alles durchdringende Furcht und Kälte. Wie kalt ist es in diesem unterirdischen Gewölbe! Das ist natürlich, es ist ja tief. [10] Anm. d. Übers.: Deutsch im Original.
Und ich muß von dem Dreck loskommen. Auf Entzug gehen. Ich habe gesehen, wie andere Leute das durchgemacht haben. Herr im Himmel, dachte er und schloß die Augen.
»Es mag wie Metaphysik klingen«, sagte einer von ihnen gerade, »aber die Leute bei den Mathematikern sagen, daß wir so dicht vor der Grenze einer neuen Kosmologie stehen könnten, daß –«
Der andere sagte erregt: »Die Unendlichkeit der Zeit, die als Ewigkeit ausgedrückt wird – als eine Schleife. Genau wie eine Endlosschleife auf einer Tonbandcassette!«
*
Er mußte noch eine Stunde rumbringen, bis er wieder in Hanks Büro erwartet wurde, um sich Barris’ Beweise anzuhören und sie zu überprüfen.
Die Cafeteria des Gebäudes zog ihn irgendwie an, und so ging er in diese Richtung, Teil eines ununterbrochenen Stromes von Menschen in Uniform und Menschen in Jedermann-Anzügen und Menschen in Schlips und Kragen.
In der Zwischenzeit wurden die Befunde der Psychologen vermutlich gerade zu Hank hochgebracht. Sie würden dort vorliegen, wenn er hinkam.
Wenigstens gibt mir diese Frist Zeit zum Nachdenken, überlegte er, als er in die Cafeteria schlenderte und sich in die Schlange der Wartenden einreihte. Zeit. Angenommen, dachte er, die Zeit ist rund, wie die Erde. Du segelst nach Westen, um Indien zu erreichen. Alle lachen dich aus, aber am Ende liegt Indien da vor dir, nicht hinter dir. In der Zeit – vielleicht liegt die Kreuzigung vor uns, während wir dahinsegeln und glauben, sie liege hinter uns im Osten. Vor ihm eine Sekretärin. Enger blauer Sweater, kein BH, fast kein Rock. Es war ein angenehmes Gefühl, sie mit Blicken auszuziehen; er starrte und starrte, und schließlich bemerkte sie ihn und rückte unbehaglich mit ihrem Tablett ein paar Schritte weiter vor.
Die Menschwerdung und die Wiederkunft Christi – ein und dasselbe Ereignis, dachte er; Zeit eine Endlosschleife auf einer Tonbandcassette. Kein Wunder, daß sie sich so sicher waren, daß es geschehen würde. Er würde zurückkommen.
Er betrachtete das Hinterteil der Sekretärin, aber dann fiel ihm ein daß sie ihn ihrerseits unmöglich so erkennen konnte, wie er sie erkannte, denn in seinem Anzug hatte er kein Gesicht und keinen Arsch. Aber sie spürt, daß ich sie im Visier habe, entschied er. Jede Puppe mit solchen Beinen würde das sehr deutlich spüren – bei jedem Mann.
Weißt du, dachte er, in diesem Jedermann-Anzug könnte ich ihr eins über den Kopf geben und sie bis in alle Ewigkeit bumsen, und wer würde je erfahren, wer es getan hat? Wie könnte sie mich überhaupt identifizieren?
Was für Verbrechen man in diesen Anzügen begehen könnte! philosophierte er. Aber nicht nur richtige Verbrechen, sondern auch läßlichere Sünden – Sachen eben, die man sonst nie tat; immer tun wollte, aber nie tat.
»Miß« sagte er zu dem Mädchen mit dem engen blauen Sweater, »Sie haben aber verdammt hübsche Beine. Aber ich vermute, das wissen Sie längst, oder Sie würden nicht so einen Mikrorock wie den da tragen.«
Das Mädchen schnappte nach Luft. »Eh«, sagte sie. »Oh, jetzt weiß ich, wer Sie sind.«
»Wirklich?« sagte er überrascht.
»Pete Wickam«, sagte das Mädchen.
»Was?« sagte er.
»Sind Sie nicht Pete Wickam? Sie sitzen mir immer bei Tisch gegenüber – Sie sind’s doch, Pete?«
»Bin ich der Typ«, sagte er, »der immer dasitzt und Ihre Beine mustert und eine Menge über Sie-wissen-schon-was nachgrübelt?«
Sie nickte.
»Habe ich eine Chance?« sagte er.
»Nun, kommt ganz drauf an.«
»Darf ich Sie demnächst mal abends zum Essen einladen?«
»Vielleicht.«
»Kann ich Ihre Telefonnummer haben? Damit ich Sie anrufen kann?«
Das Mädchen murmelte: »Geben Sie mir lieber Ihre.«
»Ich werde Sie Ihnen geben«, sagte er, »wenn Sie sich jetzt zu mir hersetzen und mit mir essen. Was immer Sie haben möchten.«
»Nein, da drüben sitzt eine Freundin von mir – sie wartet auf mich.«
»Dann könnte ich mich doch zu Ihnen setzen, zu Ihnen beiden.«
»Wir wollen was Persönliches besprechen.«
»Okay«, sagte er.
»Tja, dann bis demnächst mal, Pete.« Sie ließ ihn stehen und trat mit ihrem Tablett, auf dem Besteck und eine Serviette lagen, zur Essensausgabe.
Er holte sich einen Kaffee und ein Sandwich, suchte sich einen freien Tisch und setzte sich alleine hin. Ließ kleine Brocken von dem Sandwich in den Kaffee fallen. Starrte darauf.
Sie werden mich von Arctor abziehen, entschied er. Verdammte Scheiße. Ich werde in Syanon oder im Neuen Pfad oder in einem anderen dieser Heime sitzen und auf Entzug sein, und sie werden jemand anders damit beauftragen, ihn zu beobachten und die Erkenntnisse über ihn auszuwerten. Irgendein Arschloch, das einen Scheißdreck über Arctor weiß. Sie werden noch einmal ganz von vorne anfangen müssen.
Wenigstens können sie mich Barris’ Beweise begutachten lassen, dachte er. Mich erst in den zeitweiligen Ruhestand versetzen, nachdem wir das Zeug durchgecheckt haben, was immer es auch ist.
Wenn ich sie wirklich mal bumsen würde, und wie würde schwanger, grübelte er. Die Babys – keine Gesichter. Nur vage Flecken. Er schauderte.
Ich weiß, daß man mir den Fall entziehen muß. Aber warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Wenn ich nur noch ein paar Dinge tun könnte … Barris’ Informationen bearbeiten, an der Entscheidung teilhaben. Oder einfach nur dasitzen und sehen, was er vorlegt. Um meines eigenen Seelenfriedens willen endlich herausfinden, in was Arctor eigentlich verwickelt ist. Ist er überhaupt in etwas verwickelt? Oder etwa doch nicht?
Sie sind es mir schuldig, mir zu gestatten, lange genug dabeizubleiben, um das herauszufinden.
Wenn ich bloß einfach nur zuhören und zuschauen könnte, sogar ohne etwas zu sagen.
Er saß da und starrte vor sich hin, und irgendwann später bemerkte er, daß das Mädchen in dem engen blauen Sweater und ihre Freundin, die kurze, schwarze Haare hatte, von ihrem Tisch aufstanden und sich anschickten, hinauszugehen. Die Freundin, die nicht besonders scharf aussah, zögerte plötzlich und kam dann auf den Tisch zu, an dem Fred vornübergebeugt vor seinem Kaffee und den Überresten des Sandwichs saß.
»Pete?« sagte das Mädchen mit den kurzen Haaren.
Er schaute auf.
»Äh, Pete«, sagte sie nervös. »Ich habe nur einen winzigen Augenblick Zeit. Äh, wollte es Ihnen eigentlich selbst sagen, aber dann hatte sie doch nicht die Traute. Pete, sie wäre schon längst mit Ihnen ausgegangen, vielleicht schon vor einem Monat oder so, vielleicht sogar schon im März. Wenn –«
»Wenn was?« sagte er.
»Nun, sie hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß sie Ihnen schon seit einiger Zeit den Tip geben wollte, daß Sie viel mehr Erfolg hätten, wenn Sie eines dieser Mittel benutzen würden … sagen wir, Odol.«
»Ich wünschte, ich hätte das früher gewußt«, sagte er ohne Begeisterung.
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