»Und wie kommt es«, knirschte Fred, »daß die beiden Hemisphären meines Gehirns, selbst wenn sie beide zugleich dominant sein mögen, nicht dieselben Reize empfangen? Warum können ihre beiden Dingsbumse nicht synchronisiert werden, wie etwa die beiden Kanäle beim Stereoempfänger?«
Schweigen.
»Ich meine«, sagte er gestikulierend, »die linke Hand und die rechte Hand – wenn die ein Objekt ergreifen, dasselbe Objekt, dann müßten –«
»Linksseitigkeit versus Rechtsseitigkeit und ihre Bedeutung, zum Beispiel, sagen wir mal, hinsichtlich eines Spiegelbildes – in dem die linke Hand zur rechten Hand ›wird‹…« Der Psychologe beugte sich über Fred, der nicht aufschaute. »Wie würden Sie einen linken Handschuh im Gegensatz zu einem rechten Handschuh definieren, so daß jemand, der nichts über diese Begriffe weiß, Ihnen sagen könnte, welchen Sie meinen? Und nicht den anderen erwischt? Das spiegelbildliche Gegenstück?«
»Ein linker Handschuh«, sagte Fred und hielt inne.
»Es ist, ab nähme eine Hemisphäre Ihres Gehirns die Wirklichkeit so wahr, als werde sie von einem Spiegel widergespiegelt. Wie durch einen Spiegel hindurch. Verstehen Sie? Und darum wird links zu rechts, mit allen Implikationen, die sich daraus ergeben. Und wir wissen bisher noch nicht, was für Implikationen es mit sich bringt, wenn man die Welt auf diese Weise verkehrt sieht. Topologisch gesprochen ist ein linker Handschuh ein rechter Handschuh, der durch die Unendlichkeit gezogen wurde.«
»Durch einen Spiegel hindurch«, sagte Fred. Ein dunkler Spiegel, dachte er; ein dunkler Schirm. Und der heilige Paulus hatte, wenn er von einem Spiegel sprach, nicht einen Glasspiegel – die hatte es damals noch gar nicht gegeben – gemeint, sondern das Abbild seiner selbst, das er sah, wenn er auf den polierten Boden einer metallenen Pfanne schaute. Das hatte Luckman ihm bei einer seiner theologischen Vorlesungen erzählt. Kein Blick durch ein Teleskop oder Linsensystem, wo ja keine Umkehrung stattfindet, kein Blick durch irgend etwas, sondern nur der Anblick seines eigenen Gesichts, zu ihm zurückgespiegelt, und zwar verkehrt – durch die Unendlichkeit gezogen. Wie sie es mir die ganze Zeit begreiflich machen wollten. Nicht durch ein Glas hindurch, sondern wie von einem Glas zurückgespiegelt. Und diese Widerspiegelung, die auf dich zurückfällt: das bist du, das ist dein Gesicht, aber zugleich auch wieder nicht. Und sie hatten in jenen alten Zeiten noch keine Kameras, und darum ist das die einzige Art, in der jemand sich selber sehen konnte: rückwärts.
Ich habe mich selbst rückwärts gesehen.
Ich habe in gewisser Hinsicht damit angefangen, das gesamte Universum rückwärts zu sehen. Mit der anderen Seite meines Gehirns!
»Topologie«, sagte einer der Psychologen gerade. »Eine bisher nur unzulänglich verstandene Wissenschaft oder mathematische Theorie, wie auch immer man das bezeichnen will. Genau wie die Schwarzen Löcher im Weltall, wie –«
»Fred sieht die Welt von innen heraus«, erklärte der andere Mann gerade im selben Augenblick. »Von vorne und von hinten zugleich, vermute ich. Es dürfte uns schwerfallen, zu sagen, wie sie ihm daher erscheint. Die Topologie ist der Zweig der Mathematik, der jene Eigenschaften einer geometrischen oder andersgearteten Konfiguration untersucht, die unverändert bleiben, wenn das Objekt einer isomorphen, ja jeder denkbaren isomorphen, kontinuierlichen Transformation unterworfen wird. Aber angewandt auf die Psychologie …«
»Und wenn Objekte eine solche Transformation durchmachen – wer weiß, wie sie dann hinterher aussehen würden? Sie würden prinzipiell unerkennbar sein. Um ein Analogiebeispiel zu wählen: Wenn ein primitiver Eingeborener zum ersten Mal eine Fotografie von sich sieht, dann erkennt er nicht, daß er das selbst ist. Und das, obwohl er doch schon viele Male sein Spiegelbild gesehen hat, in Flüssen oder auf der Oberfläche metallener Gegenstände. Weil sein Spiegelbild nämlich seitenverkehrt ist und die Fotografie nicht. Darum weiß er nicht, daß es dieselbe Person ist.«
»Er ist nur das seitenverkehrte, zurückgespiegelte Abbild gewohnt und denkt, er sehe so aus.«
»Es kommt auch oft vor, daß eine Person, die ihre eigene Stimme vom Tonband hört –«
»Das ist etwas ganz anderes. Das hat etwas zu tun mit der Resonanz im Sinus –«
»Vielleicht seid ihr Scheißkerle es«, sagte Fred, »die das Universum verkehrt sehen, wie in einem Spiegel. Vielleicht sehe ich es richtig.«
»Sie sehen es auf beide Arten. «
»Und welches ist nun –«
Ein Psychologe sagte: »Früher wurde bisweilen die Ansicht vertreten, daß man nur ›Abspiegelungen‹ der Wirklichkeit sehe. Nicht die Wirklichkeit selbst. Der grundlegende Fehler einer solchen Abspiegelung ist nicht, daß sie nicht wirklich ist, sondern daß sie umgekehrt ist. Ich frage mich …« In seiner Stimme schwang ein merkwürdiger Unterton mit. »Parität. Das wissenschaftliche Prinzip der Gleichgewichtigkeit. Universum und abgespiegeltes Bild, und aus irgendeinem Grunde halten wir das letztere für das erstere … weil es uns an bilateraler Parität mangelt.«
»Wohingegen eine Fotografie das Fehlen der bilateralen hemisphärischen Parität kompensieren kann; sie ist nicht das Ding, aber sie ist auch nicht verkehrt, so daß fotografische Bilder gar keine bloßen Abbilder mehr wären, sondern das Ding selbst in ihnen aufgehoben sein müßte. Durch eine Umkehrung der Umkehrung.«
»Aber ein Foto kann auch durch einen unglücklichen Zufall umgekehrt werden, nämlich wenn man das Negativ falsch herum einlegt und seitenverkehrt belichtet; man kann das normalerweise nur erkennen, wenn Schrift auf dem Bild ist. Aber nicht am Gesicht eines Menschen. Man könnte zwei Kontaktabzüge von einem beliebigen Menschen haben, einen seitenverkehrten und einen korrekten. Jemand, der diesem Menschen nie persönlich begegnet wäre, könnte nicht feststellen, welches das richtige Bild wäre, aber er könnte sehen, daß sie sich voneinander unterscheiden und nicht zur Deckung gebracht werden können.«
»Merken Sie jetzt, Fred, wie vielschichtig das Problem ist, den Unterschied zwischen einem linken Handschuh und –«
»Und alsbald wird sich das Wort erfüllen, das da geschrieben steht«, sagte eine Stimme. »Der Tod wird aufgezehrt. Im Sieg.« Vielleicht konnte nur Fred diese Worte vernehmen. »Denn«, sagte die Stimme, »sobald die Schrift rückwärts erscheint, wirst du wissen, was Illusion ist und was nicht. Die Verwirrung endet, und der Tod, der letzte Feind, Substanz Tod, wird nicht hinuntergeschluckt, sondern au/gezehrt – im Sieg. Siehe, ich verkünde dir nun das heilige Geheimnis: Wir werden nicht alle im Tode ruhen.«
Das Geheimnis, dachte er, er meint die Offenbarung. Eines Geheimnisses. Eines geheiligten Geheimnisses. Wir werden nicht sterben.
Die Spiegelbilder werden erlöschen
Und das wird rasch geschehen.
Wir werden alle verwandelt sein, und damit meint er: plötzlich wieder umgekehrt, auf rechte Weise. In einem Augenblick!
Weil, dachte er düster, während er zuschaute, wie die Polizeipsychologen ihre Schlußfolgerungen schriftlich fixierten und die Berichtbögen abzeichneten, wir jetzt verkehrt sind. Ganz beschissen nach rückwärts gekehrt, nehme ich an, jeder einzelne von uns, jedermann und jedes verdammte Ding, und auch die Abstände zwischen uns und sogar die Zeit. Aber wie lange, dachte er, dauert es wohl, wenn ein Abzug gemacht wird, ein Kontaktabzug, und der Fotograf entdeckt, daß er das Negativ falsch eingelegt hat, wie lange dauert es da wohl, es wieder zu wenden? Es wieder umzukehren, so daß es wieder so ist, wie es eigentlich sein sollte?
Den Bruchteil einer Sekunde.
Jetzt begreife ich, dachte er, was jene Bibelstelle bedeutet: Durch ein dunkles Glas. Aber trotzdem ist mein perzeptives System so im Arsch wie eh und je. Wie sie es mir erklärt haben. Ich begreife, aber ich bin hilflos – kann mir nicht selber helfen.
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