Während des restlichen Heimwegs setzte Arctor die theoretische Analyse seiner derzeitigen Situation fort, indem er ein zweites Beispiel heranzog, das in Fachkreisen eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Während seines Polizeitrainings auf der Akademie war dieses Beispiel oft von seinen Instruktoren herangezogen worden; sie hatten es Arctor regelrecht in seinen eigenen Gedächtnisspeicher eingehämmert. Oder hatte er doch vielleicht nur mal etwas darüber in der Zeitung gelesen?
Item. Eine der effektivsten Formen industrieller oder militärischer Sabotage besteht darin, die Sabotageakte auf Beschädigungen zu beschränken, bei denen nie mit letzter Sicherheit – oder sogar überhaupt nicht – bewiesen werden konnte, daß sie absichtlich herbeigeführt worden waren. Das ist wie mit einer unsichtbaren politischen Bewegung: Vielleicht gibt es sie ja gar nicht. Wenn eine Bombe mit der Zündung eines Wagens gekoppelt wird, dann existiert offensichtlich ein Feind; wenn ein öffentliches Gebäude oder das Hauptquartier einer politischen Partei in die Luft gejagt wird, dann existiert offensichtlich ein politischer Feind. Aber wenn sich ein Unfall oder eine Serie von Unfällen ereignen, wenn – besonders über einen längeren Zeitraum hinweg verteilt – diverse Gerätschaften einfach nur versagen, wenn es zu lauter kleinen Pannen und Fehlzündungen kommt, die ja schließlich auch am natürlichen Verschleiß liegen können – dann wird das Opfer, sei es nun eine Einzelperson, eine politische Partei oder ein ganzes Land, nicht in der Lage sein, geeignete Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen.
Und es kann sogar so weit kommen, dachte Arctor, während er sehr langsam den Freeway entlangfuhr, daß das jeweilige Opfer – nehmen wir einmal an, es ist ein Mann – sich selbst für paranoid zu halten beginnt und glaubt, er habe gar keinen Feind; er zweifelt an sich selbst. Sein Wagen geht kaputt; gut, da kann vorkommen, er hat halt eine Pechsträhne. Und seine Freunde bestärken ihn darin. Er bildet sich das alles nur ein. Und diese Vorgehensweise löscht eine Person gründlicher aus als alle direkten, offenen Aktionen; allerdings nimmt sie auch mehr Zeit in Anspruch. Die Person oder die Personen, die ihn fertigmachen wollen, müssen eifrig tüfteln und immer neue Tricks ausknobeln und über einen langen Zeitraum jeden sich bietenden Zufall ausnützen. Falls das Opfer aber in der Zwischenzeit herausfinden kann, wer seine Feinde sind, hat er eine gute Chance, sie zu erwischen – und die hätte er nicht, wenn sie ihn, sagen wir mal, mit einem Zielfernrohrgewehr erschießen würden. Das ist sein Vorteil.
Arctor wußte, daß jedes Land auf der Welt eine große Zahl von Agenten ausschickte, die dazu ausgebildet waren, hier einen Bolzen anzusägen, da ein Gewinde zu lockern, Leitungskabel zu unterbrechen und kleine Brände zu entfachen, Dokumente verschwinden zu lassen – eben lauter kleine Pannen auszulösen. Ein Kaugummi in einem Xerox-Fotokopierer, der in einem Regierungsbüro steht, kann ein unersetzliches – und für die nationale Sicherheit lebenswichtiges – Dokument zerstören: statt daß eine Kopie herauskommt, wird das Original vernichtet. Zu viel Seife und Toilettenpapier (das wußten schon die Hippies in den sechziger Jahren) kann das Abwässersystem eines Behördenhochhauses ruinieren und alle Angestellten dazu zwingen, ihre Büros für eine Woche zu räumen. Eine Mottenkugel im Benzintank eines Wagens zerstört den Motor erst nach zwei Wochen, wenn der Wagen längst in einer anderen Stadt ist, und hinterläßt keine Spuren im Benzin, die analysiert werden könnten. Jede beliebige Radio- oder Fernsehstation ist dazu gezwungen, ihre Sendungen einzustellen, wenn bei Straßenbauarbeiten eine Ramme ein Mikrowellen- oder Energieversorgungskabel kappt. Und so weiter.
Und schon die Angehörigen der adeligen Herrscherschichten früherer Jahrhunderte wußten ein Lied von den seltsamen kleinen Mißgeschicken zu singen, die ihren Dienstmädchen, Gärtnern und sonstigen Bediensteten bisweilen unterliefen: eine zerbrochene Vase hier, ein hingefallenes, unbezahlbares Erbstück da, das aus einer eigensinnigen Hand rutscht…
»Warum hast du das getan, Rastus Brown?«
»Oh, ick hap nuar fagessn su –« Und davor gab es keinen Schutz, oder jedenfalls fast keinen. Niemand konnte etwas dagegen unternehmen, weder ein reicher Grundbesitzer, ein politisch engagierter, dem Regime mißliebiger Schriftsteller, noch ein kleines, gerade unabhängig gewordenes Land, das es wagte, mit geballter Faust der USA oder der UdSSR zu drohen …
Einmal hatte die Gattin eines amerikanischen Botschafters in Guatemala, der für seine rüden Methoden berüchtigt war, mit stolzgeschwellter Brust öffentlich herumerzählt, daß ihr Mann die linksgerichtete Regierung Guatemalas sozusagen im Alleingang gestürzt habe. Nach dem abrupten Regierungswechsel war der Botschafter in eine kleine asiatische Nation beordert worden, um sich dort neuen Taten zuzuwenden. Während eines Ausflugs mit seinem Sportwagen bemerkte er plötzlich einen langsam fahrenden Heuwagen, der direkt vor ihm aus einer Seitenstraße kam. Einen Augenblick später war außer ein paar blutigen Fleischfetzen von dem Botschafter nichts mehr übrig. Weder seine rüden Methoden noch die CIA-Privatarmee, die seinem Kommando unterstand, hatten ihm etwas genützt. Seine Gattin schrieb darüber keine stolzen Gedichte.
»Häh, was ich getan?« mochte der Fahrer des Heuwagens zu den örtlichen Behörden gesagt haben. »Was ich getan, Massah? Nee, ich nix –«
Oder zum Beispiel seine Ex-Ehefrau, erinnerte sich Arctor. Damals hatte er Ermittlungen für eine Versicherungsfirma durchgeführt (»Trinken Ihre Nachbarn gegenüber eigentlich viel«), und seine Frau war gar nicht damit einverstanden gewesen, daß er spät nachts noch seine Berichte schrieb, statt bei ihrem bloßen Anblick vor Begierde zu erzittern. Gegen Ende ihrer Ehe hatte sie aber gelernt, wie sie seine spätnächtlichen Arbeitsperioden sabotieren konnte – sie verbrannte sich immer beim Zigarettenanzünden die Hand, bekam irgend etwas ins Auge, putzte in seinem Büro Staub oder suchte in oder direkt neben seiner Schreibmaschine irgendwelche obskuren Gegenstände. Zuerst hatte er grollend seine Arbeit unterbrochen und sich in das Schicksal ergeben, bei ihrem bloßen Anblick vor Begierde zu erzittern aber dann hatte er sich ja in der Küche den Kopf gestoßen, als er den Popcornautomaten hervorkramte, und eine bessere Lösung gefunden.
»Wenn sie unsere Tiere umbringen«, sagte Luckman gerade, »werde ich sie ausräuchern. Ich werde sie alle kriegen. Ich werde eine professionelle Schlägertruppe anheuern, zum Beispiel ein paar Panthers aus L. A.«
»Das tun sie schon nicht«, sagte Barris. »Was hätten sie davon, wenn sie die Tiere quälen würden? Die armen Viecher haben noch niemandem was getan.«
»Ich etwa?« sagte Arctor.
»Offenbar glauben sie das«, sagte Barris.
Luckman sagte: »Wenn ich gewußt hätte, daß es harmlos war, hätte ich es selber umgebracht. Erinnert ihr euch noch daran?«
»Aber sie war ein Spießer«, sagte Barris. »Die Kleine ist nie in die Scene eingestiegen, und sie hatte mächtig Moos. Wißt ihr noch, wie ihr Apartment eingerichtet war? Die Reichen wissen überhaupt nicht, was für ein kostbares Gut das Leben ist. Und darum hinkt dein Vergleich, Ernie. – Erinnerst du dich noch an Thelma Kornford, Bob? Das stämmige Mädchen mit den riesigen Brüsten – sie trug nie einen BH, und wir saßen einfach nur rum und guckten uns ihre Brustwarzen an. Sie kam rüber in unsere Bude, um uns zu fragen, ob wir nicht für sie dieses Rieseninsekt totmachen konnten. Und als wir ihr dann erklärten –«
Bob Arctor, der verkrampft hinter dem Steuer des langsam dahinrollenden Wagens hockte, vergaß seine theoretischen Überlegungen und spulte in seinem Kopf noch einmal jene Szene ab, die bei ihnen allen einen solchen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte: Thelma, diese gezierte und elegante Spießertochter mit den irren Titten, wie immer in Rollkragenpullover und Glockenrock, war zu ihnen gekommen und hatte allen Ernstes von ihnen verlangt, ein großes, harmloses Insekt, das zudem noch nützlich war, weil es Moskitos fraß, totzuschlagen – und das in einem Jahr, in dem man im Orange County mit dem Ausbruch einer Meningitisepidemie rechnete, deren Erreger von den Moskitos übertragen wurde. Als sie festgestellt hatten, um was für ein Insekt es sich handelte, und ihr erklärt hatten, daß es harmlos und außerdem nützlich war, da hatte Thelma jenen Satz ausgesprochen , der nun für Bob Arctor und seine Freunde zu einem geflügelten Wort geworden war – zu einem geflügelten Wort, das wie ein in flammenden Lettern geschriebenes Motto über allem stand, was sie fürchteten und verabscheuten:
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